Die Bezeichnung legt nahe, dass es sich bei Sagen um «Gesagtes», also mündlich Überliefertes handelt. Weitererzählt von Generation zu Generation, vom Grossmütterchen am Spinnrad oder vom Grossvater auf der Ofenbank. So will es eine in der Frühromantik entstandene Vorstellung. Die Wirklichkeit war vielfältiger, wie sich etwa am Beispiel einer historischen Sage aus der Surselva zeigen lässt.
In Laus gibt es in einer Wiese, genannt Martgiuna, einen Stein mit einem Fussabdruck. Im Jahr der Reformation ist der Abt Christian von Castelberg in einem Tag predigend durch die ganze Cadi geeilt und hat diese Reise in drei grossen Schritten gemacht. Beim ersten Schritt trat er auf den Stein von Martgiuna und hinterliess dort seinen Fussabdruck.
Das ist eine von 72 aus dem «Volksmund» gesammelten Sagen, welche der Trunser Politiker und Kulturwissenschaftler Caspar Decurtins 1895 im zweiten Band seiner Rätoromanischen Chrestomathie publiziert hat. Angaben über die Erzählerin oder den Erzähler, über Ort und Zeit der Aufzeichnung dieser Sage aus der Epoche der Glaubenskämpfe im Freistaat der Drei Bünde bleibt uns der Herausgeber leider schuldig.
Was hingegen schwarz auf weiss vorliegt, ist das rätoromanische Primarschul-Lesebuch «Cudisch instructiv», welches der Schulinspektor und Buchdrucker Placidus Condrau 1857 in Disentis herausgegeben hat – am selben Ort, wo noch heute das Benediktinerkloster steht, von dem aus Abt Christian von Castelberg zur Verteidigung des alten Glaubens aufbrach und seine sagenhaften drei Riesenschritte tat. Dort lesen wir:
«Er eilte von einer Pfarrei zur andern und predigte an einem einzigen Tag an fünf verschiedenen Orten, welche rund sieben Wegstunden voneinander entfernt liegen. In Medel, Disentis, Sumvitg, Trun und Breil predigte er am selben Tag, und mit seinem Eifer und seiner Beredsamkeit gewann er alle Herzen.»
1884, also etwa zur selben Zeit, als Caspar Decurtins und seine Helfer sagensammelnd in den Dörfern und Weilern der Surselva mit Notizheft und Bleistift unterwegs waren, finden wir die gleiche Geschichte im populären, ebenfalls in Disentis bei Condrau erscheinenden «Calender Romontsch», einem der wenigen profanen Lesestoffe, welche der breiten Bevölkerung damals überhaupt zugänglich waren.
Schulbuch- und Kalendergeschichte wiederum gehen fast wörtlich auf die Disentiser Klosterchronik «Cuorta memoria» («Kurze Denkschrift») zurück. Diese wurde zwar nie gedruckt, zirkulierte aber seit dem Beginn des 18. Jahrhundert in zahlreichen Abschriften als Lesestoff in der Cadi. Die «Cuorta memoria» war ein Versuch, die Feudalrechte der Fürstabtei zu verteidigen. Was letztlich misslang: Der «Disentiser Zehntenstreit» setzte den bäuerlichen Abgaben 1737 ein Ende.
Durch immer wieder kopierte, zirkulierende Handschriften fanden übrigens nicht wenige übersetzte profane Texte und Erzählstoffe Eingang ins rätoromanische Sprachgebiet, das aufgrund seiner geringen Grösse und Bevölkerungszahl für Drucker und Verleger von nichtreligiöser Literatur kein interessanter Markt war.
Doch zurück zu Abt Castelberg, dessen Bemühungen um den Verbleib der Cadi beim alten Glauben mehr Erfolg beschieden war als dem Kampf seines Klosters um feudale Privilegien. Der geschwinde Gottesmann blieb nicht im zweiten Band der Rätoromanischen Chrestomathie stecken, sondern überwand in weiteren Schritten den Zeitraum von 1895 bis 1939.
Seit den 1930er-Jahren betätigte sich der Aargauer Bezirkslehrer Arnold Büchli im dreisprachigen Kanton Graubünden als emsiger Sagensammler. 1939 war er in der Val Tujetsch unterwegs, und im Weiler Camischolas erzählte ihm der angehende Jurist Carli Berther die folgende Geschichte, die sich in Band 2 von Büchlis «Mythologische Landeskunde von Graubünden» findet:
«Der Disentiser Abt von Castelberg, der sich zur Zeit der Reformation für die Erhaltung des alten Glaubens einsetzte, predigte in Sedrun an vier Orten, und man erzählt, er sei darauf in drei Schritten von Tujetsch nach Danis gegangen. Dort in Danis zeigt man noch den Stein, wo er den Fuss aufgesetzt habe.»
Von der handschriftlichen Klosterchronik gelangt die Geschichte von Abt Castelbergs sportlichem Glaubenseifer also ins Schulbuch, später in den Kalender und von da in die mündliche Erzähltradition, wo sie mit dem Motiv «Fussabdruck in Stein» angereichert wird. Damit als Sage qualifiziert, sozusagen nobilitiert, finden wir sie in der frühen Sammlung von Caspar Decurtins, welche notabene an alle Schulhäuser der Gegend verteilt wurde.
Von dort übernimmt wieder der «Volksmund», bis der nächste Sagensammler kommt, seinen Bleistift zückt und eine weitere Sagensammlung herausgibt. Mit anderen Worten: Zur Sage gehört die Schreibe, Sagen sind ein «kommunikatives Gemisch» aus Mündlichkeit und Schriftlichkeit.
Bei der gattungstypischen örtlichen Bindung von Sagen wiederum handelt es sich fast immer um eine Lokalisierung von Wandermotiven. So auch im Fall der Fussabdrücke von Laus/Martgiuna und Danis, wo auffällige Vertiefungen in grossen Steinen nach einer Erklärung verlangten. Auf Fussabdrücke mythologischer und historischer Gestalten stösst man beileibe nicht nur in der oberen Surselva, vielmehr sind sie zeitlich wie geographisch weit gestreut.
Auf die gleiche Art in Stein verewigt wie der Disentiser Abt haben sich nämlich – mit vielen, vielen anderen – schon der antike Halbgott Herakles, Buddha, Christus, der Prophet Mohammed, der Erzengel Michael und sein Widerpart, der Teufel. Und, wenig verwunderlich, auch der Reformator Martin Luther, dessen Wirken Christian von Castelberg zu seinen im Wortsinn eindrücklichen Riesenschritten motiviert hat.