Es ist der 8. Juni 1972, ein Dienstag. Der junge amerikanische Fotograf Nick Ut, er ist keine 20, schnallt sich seine vier Kameras um. Er arbeitet für die Agentur Associated Press. Mit zwei Nikon-Apparaten und zwei Leicas, Farb- und Schwarz-Weiss-Filme, macht er sich auf den Weg in den Norden von Saigon. Kurz nach Mittag bemerkt er, wie ein Skyrider auf das Dorf Trang Nang vier Napalmbomben abwirft. Die Bewohner zerstreuen sich sofort.
Ein kleines Mädchen schreit! «Nong qua! Nong qua!» – «Zu heiss! Zu heiss!» Ihre Kleider brennen. Ut sieht durch den Sucher, sieht, wie sie sich die Kleider vom Körper reisst, sieht, wie sie auf ihn zu rennt, nackt. Er drückt ab: In diesem Augenblick wird aus der neunjährigen Phan Thi Kim Phuc «The Napalm Girl».
Abendzeitungen drucken das Foto, am nächsten Tag die «New York Times». Innerhalb von 24 Stunden haben es geschätzt eine Milliarde Menschen gesehen! Die Veröffentlichung gilt als Wendepunkt in der Wahrnehmung des Vietnamkriegs. Das Napalm-Mädchen und ihr Leiden machen aus Sympathisanten des Kriegs Skeptiker des Kriegs. Die Unterstützung an der Heimatfront bröckelt, die öffentliche Meinung in den USA kippt. Ut erhält für sein Bild 1973 den Pulitzerpreis.
Der moderne Krieg ist eine anonyme Behauptung. Zumal für Zivilisten und Menschen hinter der Front. «The Napalm Girl» ersetzt die Abstraktion des Grauens durch einen ganz konkreten Augenblick und einen einzelnen Menschen. Das ist sein Erfolg. Das Bild ist die Waffe, die nicht tötet und dennoch trifft. Den Menschen bei seinem Besten, der Menschlichkeit.
Der Krieg in Vietnam – der «Amerikanische Krieg» aus Sicht von Vietnam – war der erste «Fernsehkrieg». Ein «living room war», der in den Wohnzimmern Amerikas mitentschieden wurde. Tägliche Liveschaltungen, Reportagen in den Magazinen, der Krieg fiel in die Blütezeit der Pressefotografie. Kriegsbilder waren heiss!
Lange machten an der Front das amerikanische Militär und die internationalen Kriegsreporter gemeinsame Sache. Ein Kinderspiel, sozusagen Presseausweise zu bekommen: Das Militär lud Journalisten und alle, die es sein wollten, ein, versorgte sie mit Information, Unterkunft, Verpflegung – und mit Bildern. Es herrschte für die Kriegsberichterstatter weder Zensur noch andere Kontrollen.
Mit gewünschtem Effekt: Obwohl die Kämpfe mit grosser Brutalität und viel Blutvergiessen stattfanden, sah man davon auf den Bildern wenig, weder Tote noch Verletzte. Die fotografische Zeugenschaft des Massakers durch die US-Armee an sämtlichen Bewohnern des südvietnamesischen Dorfes Son My («May Lai») vom 16. Juni 1968 – 504 Frauen, Greise, Kinder – gelangte erst eineinhalb Jahre später durch den Investigativjournalisten Seymour Hersh an die amerikanische Öffentlichkeit.
Der Krieg ist eine Bilderindustrie, das Bild eine Kriegsbraut. Das gilt auch 50 Jahre nach dem Ende des «Amerikanischen Kriegs». Das Sterben in Vietnam geht weiter. Und wieder sind Fotografinnen und Fotografen oftmals die einzigen Zeugen. Zwei Schweizer mit besonderem Engagement: Der Fotograf Roland Schmid und der Journalist und Autor Peter Jaeggi dokumentieren seit 1999 die Folgen des Kriegs für die Bevölkerung.
Zwar hissten kurz vor dem Mittag des 30. April 1975 die Rebellentruppen des Vietcongs ihre Fahne am Präsidentenpalast in Saigon – doch die Menschen in Vietnam kämpfen bis heute gegen das, was man Kollateralschaden, Folgeschaden, nennt: die Verheerungen des Entlaubungsmittels Agent Orange vor allem. Böden, Wälder, Flüsse, alles ist vergiftet.
Mehr als 45 Millionen Liter giftiger Herbizide haben die USA und ihre Alliierten versprüht, zu einem grossen Teil das dioxinhaltige Agent Orange. Ziel war die Entlaubung der dichten Wälder, um die Verstecke und Versorgungswege der Vietcong aufzudecken. Aus Flugzeugen und Helikoptern besprühte man Ackerflächen, um dem Vietcong die Nahrungsgrundlage zu entziehen.
Vietnamesische Opfervereinigungen haben die Zahlen: 4,3 Millionen Menschen sollen während des Kriegs mit dem hochtoxischen, krebserregenden – und auf das Erbgut wirksame – Agent Orange in Kontakt gekommen sein. Unter den Folgen leiden heute rund eine Million Menschen, darunter Zehntausende von Kindern. Die jüngsten Opfer sind einige Tage alt: Säuglinge mit schwersten Missbildungen. Auch drei Generationen nach dem Einsatz kommen viele Neugeborene in Vietnam mit Fehlbildungen oder Erkrankungen zur Welt.
Zwar hat vor kurzem in Südvietnam eine der grössten Entgiftungsaktionen in der Geschichte begonnen, doch Wissenschafter halten die Methode für fragwürdig. Fragwürdig wie der Umgang der USA mit ihrer Schuld. US-Veteranen, die von Agent Orange geschädigt sind, werden unterstützt. Von den geschädigten Vietnamesen und Vietnamesinnen hingegen werden Beweise verlangt, dass die Leiden direkt vom Dioxin in Agent Orange verursacht wurden. Eine Bedingung, die nicht oder kaum je zu erfüllen ist. Auch eine entsprechende Sammelklage aus Vietnam gegen Herstellerfirmen der Gifte in den USA wurde 2005 abgewiesen. Der Einsatz von Agent Orange sei «keine chemische Kriegsführung» und deshalb kein Verstoss gegen internationales Recht.
Am 30. April 2025, einem Dienstag, ist der «Amerikanische Krieg» seit 50 Jahren offiziell zu Ende. Für die Betroffenen ist das Gegenteil wahr: Der Krieg kam, der Krieg bleibt. Diese Wahrheit könnte Kriegstreibern heute eine Warnung sein.
«Krieg ohne Ende», Fotos von Roland Schmid in der Photobastei Zürich, bis 11.5.2025.