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Pfarrer Ernst Sieber ist mit 91 Jahren verstorben

Pfarrer Ernst Sieber ist mit 91 Jahren verstorben

20.05.2018, 20:5721.05.2018, 06:21
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Zum Tod von Pfarrer Ernst Sieber:

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«Kämpft weiter, ich hab‘s heiter»
Pfarrer Ernst Sieber hat sich ein Leben lang um Menschen in Not gekümmert.
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Er war eine unkonventionelle und schillernde Persönlichkeit: Pfarrer Ernst Sieber ist am Samstag im Alter von 91 Jahren friedlich eingeschlafen. Er hatte sich zeitlebens für Obdachlose, Randständige und Süchtige eingesetzt.

Die Familie und die Sozialwerke Pfarrer Sieber gaben seinen Tod am Sonntagabend gemeinsam der Nachrichtenagentur SDA bekannt.

Als Seelsorger, als Nationalrat oder als Kopf seines Sozialwerks: Mit kompromissloser Hingabe hat sich der umtriebige evangelisch-reformierte Zürcher Pfarrer Ernst Sieber um Menschen am Rande der Gesellschaft gekümmert: Obdachlose, Randständige, Drogensüchtige.

Kritik an Sozialarbeit

Ob er mit einem alten Eisenpflug den für Bedürftige «steinigen Zürcher Boden» umpflügte oder sich mit anderen Symbolen in Szene setzte – Sieber verstand es, mit unkonventionellen Methoden auch kirchenkritische Kreise für sich und seine Visionen einzunehmen.

Kritisch begegnete er einer Sozialhilfe, die aus der Ferne Bedürftige «verwaltet». Lieber nahm er seine Schützlinge selber bei der Hand. «Sozialarbeit bedeutet, das zu teilen, was man hat», pflegte er zu sagen.

Dass er seinen Worten Taten folgen liess, machte ihn glaubwürdig. Diese Glaubwürdigkeit warf er auch in die Waagschale, wenn es darum ging, den Behörden unbürokratische Hilfe für seine Sozialwerke abzuringen.

ARCHIVBILD ZUM TOD VON PFARRER ERNST SIEBER AM SAMSTAG, 19. MAI 2018 -- Pfarrer Ernst Sieber begruesst Obdachlose und Gaeste im Pfuusbus am Donnerstag, 15. November 2012 in Zuerich. Der Sattelschleppe ...
Sieber im Gespräch mit Obdachlosen in Zürich.Bild: KEYSTONE

Knecht und Theologie-Student

Sieber wurde 1927 in Horgen ZH geboren. Nach Erfahrungen als Bauernknecht in der Westschweiz studierte er in den 1950er-Jahren an der Uni Zürich Theologie. Nach einem Einsatz als Vikar in den Slums von Paris übernahm er 1956 für zehn Jahre die Pfarrei in Uitikon-Waldegg ZH und war von 1967 bis zur Pensionierung 1992 Pfarrer der evangelischen Kirchgemeinde Zürich-Altstetten.

In den frühen 1960er-Jahren begründete Sieber sein Image als Obdachlosenpfarrer. Im Zürcher «Seegfrörni»-Winter 1963 scharte er erstmals im grossen Stil Obdachlose um sich und erhielt dafür von der Stadt Zürich den Bunker am Helvetiaplatz.

Anwalt der Jugend

Von da an blieb er Anwalt der Jugend, vor allem der gestrauchelten. 1971 gründete er die Zürcher Arbeitsgemeinschaft für Jugendprobleme und setzte damit früh ein erstes institutionelles Zeichen gegen das Drogenproblem.

ARCHIVBILD ZUM TOD VON PFARRER ERNST SIEBER AM SAMSTAG, 19. MAI 2018 -- Der Obdachlosen-Pfarrer und EVP-Nationalrat Ernst Sieber haelt im August 1992 im Nationalratssaal in Bern eine Schweizer Fahne h ...
Der EVP-Nationalrat Ernst Sieber 1992 im Nationalratssaal in Bern.Bild: KEYSTONE

Über die Jahre entstanden diverse Einrichtungen für Randständige. Erst 1988 erhielten die verschiedenen Anlauf- und Beratungsstellen mit der Gründung der «Stiftung Sozialwerke Pfarrer Ernst Sieber» ein gemeinsames Dach.

Die rasant wachsenden Institutionen mit gegen 20 verschiedenen Stationen in der ganzen Schweiz und rund 200 Angestellten gerieten 1995 in ein schiefes Licht. Im Zentrum standen Vorwürfe zum Umgang mit Spendengeldern, die jedoch von einer unabhängigen Kommission ausgeräumt wurden.

Sieber begegnete der Kritik auf seine eigene Art: «Sie können mir den guten Ruf nehmen, aber nicht die Berufung», entgegnete er trotzig.

Acht Kinder

Die Turbulenzen hatten allerdings organisatorische Mängel zutage gefördert. Sieber, der seine Hauptaufgabe an vorderster Front unter den Bedürftigen sah, war das Management seines Lebenswerks aus den Händen geglitten.

Die als Familienbetrieb geführten Werke mit einem Jahresbudget von rund 20 Millionen Franken wurden danach breiter abgestützt. Ein neues Verwaltungskonzept brachte mehr Kontrolle und Transparenz.

Eine wichtige Rolle in Siebers Leben und Werk spielte seine Frau Sonja, mit der er acht Kinder grosszog. Für die Familie und sein Hobby, die Malerei, hatte er in den letzten Jahren vor seinem Tod etwas mehr Zeit.

Kampf für Drogendorf

Wie sehr sich Sieber als Seelsorger an der Font verpflichtet fühlte, zeigte sich auch in seinem Engagement als EVP-Nationalrat von 1991 bis 1995. Mit der breiten Unterstützung seiner Motion für ein Bundes-Drogen-Selbsthilfedorf feierte er 1995 seinen grössten Erfolg auf politischem Parkett.

ARCHIVE --- PFARRER ERNST SIEBER HAT SCHON IMMER DAS HIER UND JETZT INS ZENTRUM SEINER TAETIGKEIT GESTELLT. SO KUEMMERT ER SICH BIS HEUTE EBENSO ENGAGIERT WIE EINZIGARTIG UM MENSCHEN IN NOT, SUCHTKRAN ...
Sieber 1994 in Urdorf in seinem «Urdörfli», das Vorbild für ein neues Selbsthilfedorf für Drogensüchtige sein sollte.Bild: KEYSTONE

Für eine zweite Amtszeit trat er trotz guter Wahlchancen nicht mehr an, weil er sich wieder ganz seinen Sozialprojekten widmen wollte. Das politische Engagement war ihm –  nach dem Vorbild der Befreiungstheologie – ein Gebot der Stunde gewesen.

Nach einem Autounfall 2012 war es ruhig geworden um Pfarrer Sieber. Mit wachem Interesse verfolgte er aber weiterhin das Geschehen in den Einrichtungen. Bis zum Schluss kümmerte er sich persönlich um sein Lieblingsprojekt – den «Pfuusbus», einen alten Sattelschlepper, der im Winter 40 Schlafplätze für Obdachlose bietet.

Weihnachtsfeiern für Obdachlose im Nobelhotel

Fast schon Kultstatus erreichten seine Weihnachtsfeiern mit Randständigen im Zürcher Nobelhotel Marriott. Einmal im Jahr mit Obdachlosen, seinen Freunden, an weiss gedeckten Tischen mit Silberbesteck zu tafeln, war für ihn jeweils «eine Sternstunde».

Pfarrer Ernst Sieber, links, erhaelt den "Prix Courage Lifetime Award" durch Andres Buechi, rechts, Chefredaktor Beobachter, anlaesslich der Verleihung des "Beobachter Prix Courage 2017 ...
Am 17. November 2017 erhält Ernst Sieber (links) in Zürich den «Prix Courage Lifetime Award» des «Beobachter» verliehen.Bild: KEYSTONE

Erst im vergangenen November war Sieber vom «Beobachter» mit dem Lifetime Award ausgezeichnet worden, den er persönlich entgegennahm. Sein kompromissloses Engagement für die Randständigen wurde auch von der Stadt Zürich gewürdigt: Als Anerkennung für seine Verdienste überreichte Stadtpräsidentin Corine Mauch dem Obdachlosenpfarrer 2013 das Staatssiegel, eine silberne Plakette mit Stadtheiligen. (mik/sda)

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31 Kommentare
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René Obi
20.05.2018 19:39registriert Oktober 2015
Er hat Zürich während Jahrzehnten menschlicher gemacht! Danke!
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welefant
20.05.2018 19:45registriert März 2015
pfuus guet!🙏🏼
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Picker
20.05.2018 19:43registriert Januar 2016
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen war Pfarrer Sieber mit Bilderrahmen am Türlersee. Habe dann später auch geschnallt, was er damit meinte.
Danke für Dein Lebenswerk!
Pfarrer Ernst Sieber ist mit 91 Jahren verstorben
Eine meiner frühesten Kindheitserinnerungen war Pfarrer Sieber mit Bilderrahmen am Türlersee. Habe dann später auch geschnallt, was er damit meinte ...
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