International
Analyse

Wie sich die Ukraine ohne Amerika verteidigen kann

In this photo provided by Ukraine's 24th Mechanized Brigade press service, an MRLS BM-21 "Grad" fires towards Russian army positions near Chasiv Yar, Donetsk region, Ukraine, Sunday, Fe ...
Ein ukrainischer Mehrfachraketenwerfer aus der Sowjetzeit.Bild: keystone
Analyse

Wie sich die Ukraine ohne Amerika verteidigen kann

Donald Trumps Verrat ist nicht Wladimir Putins Triumph. In Europa werden bisher ungeahnte Kräfte wach.
06.03.2025, 12:1506.03.2025, 14:08
Mehr «International»

Zuerst kappte er die Militärhilfe, jetzt verbietet er auch seinen Geheimdiensten, der Ukraine wichtige Informationen zukommen zu lassen. Donald Trump lässt im Verrat an der Ukraine nichts aus. Trotzdem sieht es nicht so aus, als ob der US-Präsident das geschundene Land in die Knie zwingen könnte. Andriy Zagorodnyuk, der ehemalige Verteidigungsminister, stellt in einem Essay in «Foreign Affairs» klar: «Die Führung der Ukraine hat mit überwältigender Unterstützung der Menschen in der Ukraine entschieden, dass Aufgeben keine Option ist.»

Gleichzeitig fügt Zagorodnyuk hinzu, dass die russische Armee noch weit von den vom Kreml gesteckten Zielen entfernt ist: «Putin mag in der Lage sein, einige taktische Durchbrüche zu bewerkstelligen, aber er wird seine maximalistischen Ziele nicht erreichen.»

In this image made from video released by the Russian Defense Ministry on Monday, Nov. 4, 2024, Russian soldiers record video congratulations at an undisclosed location in Ukraine. (Russian Defense Mi ...
Russische Soldaten feiern die Eroberung eines Dorfes.Bild: keystone

Das ist mehr als Pfeifen im Wald, und zwar aus zwei Gründen: Die Hoffnung, dass Europa tatsächlich in die Lücke springt, welche die Amerikaner hinterlassen, und die Tatsache, dass Russlands Armee noch weit von einem Sieg entfernt ist.

So stellt George Barros vom Institute for the Study of War (ISW) – bekannt für präzise und unabhängige Analysen des Krieges in der Ukraine – im «Atlantic» fest, die Russen würden keine bedeutenden Städte einnehmen: «Im vergangenen Jahr eroberten sie weitgehend unbewohnte Steppe mit einer Handvoll von Dörfern und einzig zwei wichtige Städte», so Barros.

Der Preis, den die Russen dafür bezahlen, ist horrend, selbst wenn die Zahlen, welche die Ukraine nennt – mehr als 400’000 Tote und Verwundete – wahrscheinlich übertrieben sind. Nicht nur Menschenleben werden von Wladimir Putin im grossen Stil geopfert. Vieles deutet darauf hin, dass den Russen auch bald das Material ausgehen wird. Die noch aus der Sowjet-Ära stammenden Panzer und Kanonen scheinen weitgehend vernichtet zu sein. Russische Infanteristen fahren nicht mehr in Schützenpanzern zur Front, sondern in chinesischen Leichtfahrzeugen, Motorrädern – oder sie reiten gar auf Eseln und Maultieren.

epa11913346 Ukrainian developers handle Besomar 3210 unmanned aerial vehicle (UAV) systems during their handover to the Ukrainian army at an undisclosed location in the Lviv region, western Ukraine, 2 ...
Kriegsentscheidend: ukrainische Drohnen.Bild: keystone

Zudem hat sich der Krieg massiv verändert. Waren einst Panzerfäuste und 155-Millimeter-Artillerie-Munition entscheidend, sind es heute die Drohnen. Gemäss Barros werden derzeit die meisten russischen Soldaten damit getötet. Und diesbezüglich haben die Ukrainer keine Probleme. Nochmals Barros, diesmal in der «New York Times»: «Die Verteidigungsindustrie der Ukraine hat gewaltige Fortschritte gemacht und kann vieles, was derzeit gebraucht wird, selbst herstellen.»

Alles deutet darauf hin, dass auch die Hoffnungen auf Europa berechtigt sind. Innert Tagen hat sich die Stimmung auf dem alten Kontinent massiv verändert. Die EU hat soeben einen Vorschlag veröffentlicht, der 150 Milliarden Euro für eine gemeinsame Aufrüstung der Verteidigung vorsieht. «Wir leben in äusserst bewegten und gefährlichen Zeiten», begründet Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen diesen Schritt.

Gemäss dem «Guardian» werden derweil im Vereinigten Königreich Pläne geschmiedet, wonach eine europäische Luftwaffe mit 120 Kampfjets gebildet werden soll, welche den Himmel der Ukraine beschützt. Der «Sky Shield» genannte Plan könnte «einen grösseren militärischen, politischen und sozioökonomischen Einfluss haben als 10’000 europäische Bodentruppen», heisst es in einem soeben veröffentlichten Papier. Der Plan hat gewichtige Unterstützer, etwa Philip Breedlove, der ehemalige Oberbefehlshaber der US Air Force, Sir Richard Shirreff, ein ehemaliger General der britischen Armee, und Aleksander Kwaśniewski, der ehemalige Präsident Polens.

Die Gefahr, dass diese Jets in einen direkten Konflikt mit den Russen geraten könnten, ist minim. Moskau wagt es nicht, seine Jets über die bestehenden Grenzen zur Ukraine fliegen zu lassen. Die Distanz zu den im Westen der Ukraine stationierten Jets von «Sky Shield» würde damit mehr als 200 Kilometer betragen.

24.02.2025, Berlin: Friedrich Merz, CDU-Bundesvorsitzender und CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender im Bundestag, spricht w�hrend einer Pressekonferenz nach der Sitzung des CDU-Vorstands. Foto: Christoph Soe ...
Friedrich Merz macht's wie einst Mario Draghi: «Whatever it takes.»Bild: keystone

Am erstaunlichsten ist jedoch der Sinneswandel in Deutschland. Friedrich Merz, der künftige Bundeskanzler, schreckt nicht davor zurück, bisher unantastbare deutsche Tabus über Bord zu werden. Soeben hat er zusammen mit seinem wahrscheinlichen Koalitionspartner SPD einen Plan verkündet, der vorsieht, die Staatsausgaben in den nächsten zehn Jahren um rund eine Billion Euro zu erhöhen. Die Schuldenbremse wird somit zur Makulatur, jetzt gilt die Maxime, die einst Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank, geprägt hat: «Whatever it takes».

Deshalb schreckt der künftige Kanzler auch vor einem Manöver nicht zurück, das nicht ohne Risiken ist: Er will seinen Plan noch vom alten Bundestag absegnen lassen, um so ein Störmanöver der Linken und der AfD zu verhindern.

Britain's King Charles III and Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy, right, shake hands during their meeting at the Sandringham Estate in Norfolk, England, Sunday, March 2, 2025. (Joe Giddens/ ...
König Charles III. empfängt Wolodymyr Selenskyj.Bild: keystone

Merz geht es nicht nur um die militärische Sicherheit Europas, sondern auch um einen wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands. «Das sind sehr gute Nachrichten für die militärischen Kapazitäten und das Wirtschaftswachstum», sagt denn auch Jens Südekum, Wirtschaftsprofessor an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf.

Investitionen in die Verteidigungsindustrie sind mehr als Investitionen in toten Stahl. Sie wirken auch wie ein Ankurbelungs-Programm für die gesamte Wirtschaft und könnten dafür sorgen, dass der technologische Rückstand auf die USA und China aufgeholt werden kann. Dass Deutschland gleichzeitig endlich auch massiv in seine Infrastruktur investieren will, wird diesen Effekt noch verstärken.

Trotzdem wäre es naiv zu glauben, Trumps Verrat hätte keine Folgen für die Ukraine. Um ihre Städte zu schützen, ist Präsident Wolodymyr Selenskyj auf das Luftabwehrsystem Patriot angewiesen, seine Generäle auf die Informationen, die sie bisher von den amerikanischen Geheimdiensten erhalten haben. Beides können die Europäer nicht im gleichen Mass kompensieren.

Es besteht jedoch die Hoffnung, dass Trump einmal mehr eine seiner unzähligen Kehrtwendungen vollzieht, zumal Selenskyj sich mittlerweile bei ihm entschuldigt hat. Mike Waltz, der amerikanische Sicherheitsberater, hat in einem Interview mit Fox News einen solchen Sinneswandel bereits angedeutet: «Sollte es uns gelingen, in den Verhandlungen (über Rohstoffe) eine Lösung zu finden und vertrauensbildende Massnahmen auf den Tisch zu legen, dann wird der Präsident sich das ganze nochmals genau anschauen und die getroffenen Massnahmen aufheben.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Schweizer Armee veröffentlicht «Erklärvideo» zum Ukraine-Krieg
1 / 13
Schweizer Armee veröffentlicht «Erklärvideo» zum Ukraine-Krieg
Dieser Mann, der stellvertretende Chef des militärischen Nachrichtendienstes, bringt der Bevölkerung Überlegungen zum Ukraine-Krieg näher.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
SNL parodiert die aktuelle Politik in den USA – und es ist schmerzhaft akkurat
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
151 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
123456seven
06.03.2025 13:11registriert Februar 2022
Ob Trump nun den Waffenexport-stopp wieder aufhebt oder nicht, Europa muss den eingeschlagenen Weg zur Selbstständigkeit unbedingt konsequent weitergehen.
1416
Melden
Zum Kommentar
avatar
Mentos
06.03.2025 12:26registriert Mai 2020
„In Europa werden bisher ungeahnte Kräfte wach.“ Man kann über Europa sagen, was man will, aber dieses Zeichen ist stark.
9613
Melden
Zum Kommentar
avatar
Waterloo
06.03.2025 12:48registriert September 2022
Dass Trump seinem Freund Putin zu Hilfe eilen muss, lässt darauf schliessen, dass dieser militärisch am Anschlag ist und auf dem Zahnfleisch kaut. Sein Stolz lässt es ihm aber nicht zu, selbst irgendwelche Zugeständnisse zu machen und bleibt bei der Maximalforderung, die Ukraine zu zerstören und auszulöschen. Putin versucht nun über Trump Druck auf die Ukraine auszuüben und diese zu einem Diktatfrieden zu drängen. Trump riskiert damit, dass er wie Putin von Westeuropa verachtet und als Verräter hingestellt wird. Die traditionelle Freundschaft Westeuropas mit den USA steht nun auf dem Spiel.
8316
Melden
Zum Kommentar
151
    Mossad als Israels Geheimwaffe: Die grössten Einsätze des Geheimdienstes
    Für Israels Angriff hat der Auslandsgeheimdienst wichtige Vorarbeit geleistet. Der Einsatz der Agenten mitten im Iran ist nur der letzte in einer langen Serie erfolgreicher und misslungener Aktionen.

    Den Grossangriff Israels gegen den Iran haben Berichten zufolge Agenten des Auslandsgeheimdienstes Mossad unterstützt und vorbereitet. Dabei sollen sie tief im Inneren des Irans im Einsatz gewesen sein. Unter anderem platzierten und bedienten sie Präzisionswaffen und Drohnen mitten im Feindesland, um Luftabwehrstellungen und Raketensilos zu zerstören. Folglich hatten Israels Kampfjets freie Hand, Kommandobunker der iranischen Militärführung und Atomanlagen zu bombardieren. Die jüngste Aktion reiht sich ein in etliche spektakuläre Einsätze des israelischen Auslandsgeheimdienstes.

    Zur Story