Was hat Donald Trump bloss über Joe Biden gelästert. Dumm, ja strohdumm sei er, und generell der schlechteste amerikanische Präsident aller Zeiten. Jetzt schlägt der Ex-Präsident plötzlich ganz andere Töne an. So weit er überhaupt zu diesen Emotionen fähig ist, zeigt er Mitleid. Die Präsidentschaft sei Biden gestohlen worden, erklärte Trump jüngst an einer Pressekonferenz. «Ich war nie sein Fan, wie ihr wahrscheinlich bemerkt habt», so Trump. «Er hatte eine brutale Debatte. Aber das heisst nicht, dass man ihm die Präsidentschaft einfach wegnehmen darf.»
Trumps Krokodilstränen kommen nicht von ungefähr. Seit Biden nicht mehr im Rennen ist, treten die Schwächen des Ex-Präsidenten umso deutlicher zutage. So stellt Peggy Noonan im «Wall Street Journal» fest: «In diesen Tagen machen sich die Menschen zum ersten Mal Gedanken über das Alter von Trump. Er ist 78. Er kann sich nicht mehr konzentrieren, seine Botschaft nicht mehr hinüberbringen. Wird er – eine weitere Ironie des Jahres 2024 – selbst zu einem Joe Biden?»
Nicht nur das Alter erinnert die Menschen an den Präsidenten, auch die Art und Weise, wie er seinen Wahlkampf führt. Während Kamala Harris und Tim Walz von einer Rally zur nächsten eilen, bunkert sich Trump wie einst Biden in seiner Residenz in Florida ein und hält dort wirre Pressekonferenzen ab. Vergangene Woche absolvierte er den einzigen Auftritt in Montana, einem tiefroten Bundesstaat, den er auf jeden Fall gewinnen wird.
Die harte Wahlkampf-Arbeit überlässt er derweil seinem Angriffshund J. D. Vance. Der gesalbte Vize macht jedoch einen schlechten Job. Er wirkt nicht nur wie direkt aus einer Retorte gestiegen, immer wieder macht er sich auch lächerlich. So hat er kürzlich seinem Konkurrenten Walz vorgeworfen, er sei ein «typischer San-Francisco-Liberaler». Dabei geht mehr Mittlerer-Westen-Amerikaner als bei Walz nicht. Der ehemalige Lehrer, Football-Trainer und Reserve-Soldat war übrigens letzten Monat zum ersten Mal in seinem Leben in San Francisco; Vance hat vier Jahre lang dort gewohnt.
Fakten sind wichtig in einem Wahlkampf, fast noch wichtiger sind jedoch die Emotionen, welche die Kandidaten bei den Menschen auslösen. Diesbezüglich könnten die Unterschiede zwischen Trump/Vance und Harris/Walz grösser nicht sein. Der Ex-Präsident beschwört einmal mehr die Apokalypse herauf. Er übertreibt nicht nur masslos, wenn es um Immigration und Inflation geht, er prophezeit gar eine Depression wie in den Dreissigerjahren und einen dritten Weltkrieg, sollten die Demokraten die Wahlen gewinnen.
Harris/Walz schlagen ganz andere Töne an. Sie unterscheiden sich damit nicht nur von Trump/Vance, sondern – zumindest, was den emotionalen Auftritt betrifft – auch von Joe Biden. Der Präsident gewann vor vier Jahren, weil er sich zurückhielt und so dafür sorgte, dass die Aufmerksamkeit auf Trump und dessen chaotischer Amtsführung vor allem während Corona lag. «2020 war Trump ein unbeliebter Amtsinhaber, deshalb funktionierte diese Strategie», stellt Ezra Klein in der «New York Times» fest. «2024 war Biden der unbeliebte Amtsinhaber, deshalb hat diese Strategie nicht geklappt.»
Biden ist es nie gelungen, seine unbestrittenen Leistungen den Wählern zu verklickern. Anstatt glücklich darüber zu sein, dass die amerikanische Wirtschaft die Corona-Krise weit besser als alle anderen überstanden hat und endlich ein Infrastruktur-Programm durch den Kongress geschleust werden konnte, klagten die Joe Sixpacks über Inflation, Zuwanderung und Kriminalität, obwohl diese in Bidens Amtszeit massiv abgenommen hat.
Selbst die Demokraten konnten sich nicht für ihren Präsidenten erwärmen. «Wir werden ihn wählen, selbst wenn er tot ist», schworen sie zwar, doch sie taten dies in einer Stimmung wie Ehemänner, die von ihren Gattinnen dazu aufgefordert werden, den Kehrichtsack vor die Türe zu tragen.
Vor allem ist es Biden nicht gelungen, die jungen Wähler anzusprechen. Genau dies schaffen Harris/Walz mit ihrem «Wahlkampf der Freude». Dank der Sängerin Charli XCX ist Harris nun eine «Göre» («Brat») – und das ist äusserst positiv gemeint. Jeder Teenager weiss mittlerweile, was es mit dem Kokosnussbaum auf sich hat, auf TikTok und anderen sozialen Plattformen sind die positiven Memes über Harris/Walz geradezu explodiert.
«Aus unterschiedlichen Gründen sind Harris und Walz beide extrem meme-bar, clip-bar und leicht zu remixen», stellt Ezra Klein fest und beschreibt den Effekt wie folgt: «Biden hat Trump grösser gemacht, Harris verzwergt ihn».
Die Freude-Strategie zahlt sich aus. Obwohl Meinungsumfragen zu diesem Zeitpunkt immer noch mit Vorsicht zu geniessen sind, ist es doch bemerkenswert, dass Harris inzwischen Trump in einigen Umfragen national und auch in einigen Swing States überholt hat. Das und die Tatsache, dass die Rallys von Harris/Walz rekordgrosse Zuschauermengen anlocken, schlägt Trump offenbar sehr auf den Magen. Er sei «nahe an einem öffentlichen Nervenzusammenbruch», meldet das Newsportal Politico.com. Neuerdings versteigt sich Trump gar zur absurden Behauptung, die Zahl der Besucher bei den Harris-Rallys sei gefakt.
Der Stimmungswechsel der letzten Wochen ist erstaunlich, ja einmalig. Das hindert Nörgeler und Bedenkenträger nicht daran, das Haar in der Suppe zu suchen. All dies sei ein «Sugar high», ein Strohfeuer, das sich bald legen werde, orakeln sie. Mag sein. Doch angesichts der Tatsache, dass es Harris und Walz dank dieses «Sugar high» gelungen ist, weit mehr als 300 Millionen Dollar Spendengelder einzusammeln und dass sich landesweit Hunderttausende freiwillige Wahlhelfer gemeldet haben, können die Demokraten nicht schlecht damit leben.
Natürlich ist die Wahl noch keinesfalls gewonnen. «Wir sind die Underdogs», betont Harris daher immer wieder. Und ja, bis zu den Wahlen geht es immer noch rund drei Monate, politisch eine Ewigkeit. In dieser Zeit sind weitere Überraschungen nicht nur möglich, sondern wahrscheinlich.
Doch die bleierne Last, die über einer Biden-Wiederwahl lag, ist von den Demokraten abgefallen. Die Hoffnung, Trump erneut schlagen zu können, ist berechtigt. Dafür macht sich eine andere Angst breit: Was wird geschehen, sollte der Ex-Präsident tatsächlich verlieren? Wird er versuchen zu verhindern, dass die Wahlen zertifiziert werden, oder wird es gar zu neuen Gewaltausbrüchen kommen?
Auch diese Sorgen sind berechtigt, doch zunächst halten wir uns an die bewährte amerikanische Redewendung: «Let’s cross that bridge when we come to it.» (Lasst und diese Brücke überqueren, wenn wir dort angelangt sind.)