Für Peking hätte sich Putins Krieg idealerweise wie folgt abgespielt: Die russische Armee erledigt ihren Job in ein paar Tagen. Der Westen protestiert zwar lautstark, verheddert sich jedoch bald in internen Streitigkeiten. Die Sanktionen gegen Russland erweisen sich einmal mehr als wirkungslos. Die USA und die EU stehen als Verlierer da. Der Zerfall der liberalen Weltordnung geht weiter.
Die Wirklichkeit hat sich nicht an dieses Szenario gehalten. Zum Entsetzen der chinesischen Regierung haben sich die russischen Soldaten so tollpatschig verhalten, dass Moskau nun gemäss amerikanischen Informationen Peking darum bitten muss, nicht nur moralische Unterstützung zu leisten, sondern auch Waffen zu liefen. Diese Bitte dürfte bei Chinas Staatschef Xi Jinping alles andere als gelegen kommen, und zwar aus mehreren Gründen.
Zuerst stellt sich die Frage, weshalb die Russen überhaupt auf Waffennachschub aus China angewiesen sind. Normalerweise sind die Rollen umgekehrt verteilt. Nebst Rohstoffen und Getreide sind Rüstungsgüter so ziemlich das einzige, das die marode russische Wirtschaft noch exportieren kann. Sind die Verluste in der dritten Kriegswoche von Putins Armee so gross, dass man auf den chinesischen Bruder zurückgreifen muss? Oder soll China auf diese Weise zumindest symbolisch noch stärker an Russland gebunden werden?
Genau dies will man in Peking auf jeden Fall vermeiden. Vielmehr ist man in China bemüht, den Schein einer Neutralität aufrechtzuerhalten. Liu Pengyu, Sprecher der chinesischen Botschaft in Washington, verneint deshalb, dass es eine russische Anfrage nach Waffenlieferung gegeben habe und fügt hinzu: «China macht sich grosse Sorgen um die Lage in der Ukraine. Wir hoffen ernsthaft, dass sich die Situation bald entspannen und Frieden so rasch wie möglich zurückkehren wird.»
Gleichzeitig weigert sich Peking jedoch, Putins Krieg zu verurteilen, schliesslich hat sich Xi am 4. Februar Hand in Hand mit dem russischen Präsidenten gezeigt und dabei pathetisch erklärt, die gegenseitige Freundschaft «kenne keine Grenzen». So sicher scheint dies inzwischen allerdings nicht mehr zu sein. CIA-Direktor William Burns erklärte in einem Senats-Hearing am vergangenen Donnerstag, Mr. Xi sei über die Ereignisse in der Ukraine «zutiefst verunsichert».
Xis Verunsicherung ist nachvollziehbar. Zwar teilt er mit Putin den brennenden Wunsch, die Vormachtstellung der USA zu brechen. Was jedoch die wirtschaftlichen Interessen betrifft, sind diese bei China und Russland völlig gegensätzlich.
Der Aufstieg des Reichs der Mitte zur zweitgrössten Wirtschaft der Welt wäre ohne freien Welthandel nicht möglich gewesen. China ist der grösste Gewinner der Globalisierung. Putin ist es hingegen nicht gelungen, die russische Wirtschaft auf Vordermann zu bringen. Für den Export von Rohstoffen und Getreide braucht es keine komplexen Handelsverträge.
Eine Deglobalisierung kommt für China zudem zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Es gilt zunächst, eine immense Immobilienkrise zu bewältigen, und ob dies gelingen wird, ist nach wie vor unsicher.
Gleichzeitig wütet Omikron nun auch in China, und zwar kräftig. In Shenzhen hat die Regierung deshalb soeben einen 6-tägigen Lockdown angeordnet.
Shenzhen ist die Vorzeigestadt des chinesischen Wirtschaftswunders und die Antwort auf das Silicon Valley. In der 17-Millionen-Stadt sind Unternehmen wie Huawei oder Tencent angesiedelt. Bei Foxconn lässt auch Apple seine iPhones fertigen. Der Lockdown ist deshalb alles andere als trivial.
Angesichts dieser Entwicklungen ist auch die oft gehörte These, wonach China Putins Krieg für einen Überfall auf Taiwan ausnützen könnte, wenig wahrscheinlich. Die geschlossene und heftige Reaktion der USA und ihrer Verbündeten dürfte Xi die Augen geöffnet und ihm gezeigt haben, dass die Meldungen des Todes des Westens im Sinne von Mark Twain weit übertrieben waren.
Sollte China tatsächlich Waffen nach Russland schicken, würde das Folgen haben. Jake Sullivan, der nationale US-Sicherheitsberater, erklärte am Sonntag auf mehreren TV-Sendern: «Auf privaten direkten Kommunikationskanälen lassen wir Peking unmissverständlich wissen, dass eine breite Unterstützung der Russen sofort heftige Reaktionen gegen sie [die Chinesen, Anm. d. Red.] auslösen würde.»
China wird voraussichtlich weiterhin versuchen, einen an sich unmöglichen Spagat aufrechtzuerhalten. Einerseits mischt man kräftig mit, wenn es darum geht, russische Fake News zu verbreiten. Jüngstes Beispiel ist die längst widerlegte These, wonach die Amerikaner in der Ukraine Labors unterhalten würden, mit der Absicht, biologische Waffen herzustellen.
Gleichzeitig jedoch geht man auf vorsichtige Distanz zu Moskau. Putins Krieg weckt – vielleicht mit Ausnahme von Serbien – nirgends auf der Welt Sympathien. Die schrecklichen Bilder aus der Ukraine haben den russischen Präsidenten mittlerweile zum meistgehassten Menschen der Welt gemacht und die Inkompetenz seiner Generäle aufgezeigt.
Damit wollen die Chinesen auf keinen Fall in Verbindung gebracht werden. Sie gehen ungern Risiken ein – und schon gar nicht mit einem Loser.
Das sollte echt zu denken geben.