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Die Rückkehr der Realpolitik à la Bismarck

Otto von Bismarck und Wladimir Putin vor einer Europa-Karte.
Bild: keystone/shutterstock/wikimedia
Analyse

Die Rückkehr der Realpolitik à la Bismarck

Erdöl aus dem Iran und Venezuela, Aufhebung der Zölle gegen China: Putins Krieg macht bisher Undenkbares wieder denkbar.
07.03.2022, 18:0007.03.2022, 18:00
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Otto von Bismarck war der erste deutsche Regierungschef und trug das Attribut «der eiserne Kanzler». Er war ein Meister darin, Deutschlands Feinde gegeneinander auszuspielen und seinem Land zum Aufstieg zur führenden Macht auf dem alten Kontinent zu verhelfen. «Realpolitik» wurde das Vorgehen von Bismarck genannt. Konkret bedeutete dies, dass man in der Aussenpolitik keine moralischen Skrupel kennt, und dass man die eine oder andere Kröte schluckt. Hauptsache, es dient dem Vaterland.

China, Russland und der Iran sind heute vereint in ihrem Hass und ihrem Kampf gegen die liberale westliche Weltordnung. Wenn es darum geht, den amerikanischen Unilateralismus zu zertrümmern, sind sie ein Herz und eine Seele. Die gemeinsamen geopolitischen Interessen können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die wirtschaftlichen Interessen unterschiedlicher nicht sein könnten.

Eine Niederlage Putins in seinem menschenverachtenden Krieg gegen die Ukraine ist aktuell das alles überragende Ziel des Westens. Ist eine Rückkehr zu einer Realpolitik à la Bismarck der Schlüssel dazu?

China

Präsident Xi Jinping bezeichnet Wladimir Putin als seinen besten Freund. «Wir haben gleiche Ansichten über die gegenwärtige Situation der Welt», erklärte er in einem Radiointerview. «Wir haben die gleiche Philosophie, was die Art und Weise betrifft, wie wir unser Land regieren wollen, und wir tragen die gleiche Verantwortung, wenn es darum geht, unsere beiden Länder zu revitalisieren. Was jedoch das Wichtigste ist: Wir haben eine deckungsgleiche Ansicht, was die strategische Bedeutung einer sino-russischen Verbindung betrifft.»

Diese Bromance zu brechen scheint auf den ersten Blick unmöglich zu sein. Auf den zweiten vielleicht nicht, denn die wirtschaftlichen Interessen der beiden Länder sind alles andere als deckungsgleich.

Russland ist bekanntlich eine «Tankstelle mit Atomwaffen». Seine wichtigsten Exportprodukte sind Erdöl, Gas und Getreide. Dazu braucht es weder komplexe Handelsabkommen noch die Welthandelsorganisation. Russland ist zwar ebenfalls WTO-Mitglied, kann es sich aber trotzdem leisten, die Rolle des Spielverderbers zu spielen. Und das tut Putin mit Gusto. Seine Aussenpolitik besteht im Wesentlichen darin, den Westen auseinander zu dividieren und Knüppel in das liberale System der Weltwirtschaft zu werfen.

FILE - Russian President Vladimir Putin, left, and China's President Xi Jinping shake hands prior to their talks on the sideline of the 11th edition of the BRICS Summit, in Brasilia, Brazil in No ...
Putin und Xi: geopolitisch einig, aber die wirtschaftlichen Interessen sind unterschiedlich.Bild: keystone

Ganz anders China. In den letzten Jahren hat sich das Reich der Mitte zur Werkstatt der Welt entwickelt. Dank der Exporte in den Westen ist gelungen, in einem Rekordtempo von einer ökonomischen Steinzeitökonomie zur zweitgrössten Volkswirtschaft der Welt zu werden. Auch wenn die Zeiten von «Chinamerica», der geradezu symbiotischen Verbindung zwischen China und den USA, vorüber sind, sind die wirtschaftlichen Beziehungen nach wie vor sehr bedeutend. China hat daher ein grosses Interesse an einem funktionierenden Welthandel.

Kommt dazu, dass sich Chinas Wirtschaft derzeit nicht in Topform befindet. Die Coronakrise hat ihre Spuren hinterlassen, und das Land leidet unter einer Immobilienkrise – Stichwort Evergrande –, deren Ausgang ungewiss ist und die Chinas Volkswirtschaft nachhaltig erschüttern könnte.

Anders als Russland hat China hochfliegende ökonomische Pläne. Es will die führende Nation in Sachen künstlicher Intelligenz und Biotech werden. Um diese Pläne zu verwirklichen, wird nach wie vor westliches Knowhow gebraucht.

1972 ist der damalige US-Präsident Richard Nixon zu einem legendären Besuch nach Peking gereist. Geraten dazu hat ihm sein aussenpolitischer Berater und zeitweiliger Aussenminister Henry Kissinger. Dieser kannte die bismarcksche Realpolitik aus dem Effeff.

Nixon hatte Erfolg. Es gelang ihm, die Entfremdung zwischen Mao Zedong und Leonid Breschnew zu vertiefen und China näher an die USA zu führen. Um die Bromance zwischen Xi und Putin zu knacken, müssen die Amerikaner allerdings zunächst ihre aktuelle China-Hysterie herunterfahren.

Iran

Seit die Ayatollahs an der Macht sind, liegen sich Iran und die USA in den Haaren. In mühseliger Kleinarbeit ist der Obama-Regierung gelungen, einen Vertrag abzuschliessen, der verhindert oder zumindest verzögert hätte, dass der Iran eine Atommacht wird.

Donald Trump hat in seiner ihm eignen grossen Weisheit diesen Vertrag annulliert und den Iran mit harten Sanktionen belegt, in der Hoffnung, die Ayatollahs würden klein beigeben. Diese Hoffnung hat sich zerschlagen und Experten befürchten nun, dass der Iran kurz davor ist, eigene Atomwaffen zu bauen.

Die sehr junge Bevölkerung Irans leidet unter den Sanktionen. Corona und Klimawandel haben zudem die Lebensbedingungen weiter verschlechtert. Deshalb ist es denkbar, dass auch die Ayatollahs interessiert sein könnten, den geplatzten Vertrag wieder in Kraft zu setzen. Entsprechende Verhandlungen sind derzeit in Wien im Gang.

Die wirksamste Waffe des Westens gegen Putin ist ein Boykott fossiler Produkte aus Russland. Iran sitzt auf gewaltigen Ölvorkommen. Wegen der bestehenden Sanktionen darf es jedoch kein Öl in den Westen exportieren. Würden die Sanktionen aufgehoben, könnte der Iran zumindest teilweise die Lücke füllen, die ein Boykott russischen Öls hinterlassen würde.

epa08776289 Iranians shop in Tajrish Old Bazaar in Tehran, Iran, 26 October 2020. Media reported that following tension between Iran and USA, the US administration announced more sanctions against the ...
Ein Basar in Teheran.Bild: keystone

Das Gleiche trifft auch für Venezuela zu. Harte amerikanische Sanktionen haben die Erdölindustrie dieses südamerikanischen Landes weitgehend lahmgelegt. Doch auch hier bahnen sich realpolitische Überlegungen an. So meldet die «Washington Post», dass man sich im Weissen Haus überlegt, mit Venezuela wieder ins Geschäft zu kommen. Das macht Sinn. Immerhin lagern in Venezuela die grössten Ölreserven der Welt.

China verletzt die Menschenrechte gegenüber den Uiguren auf Übelste, die Ayatollahs üben im Iran nach wie vor ein Terrorregime aus, und mit Nicolás Maduro, dem Präsidenten von Venezuela, möchte man am liebsten nichts zu tun haben. Doch aussergewöhnliche Zeiten erfordern aussergewöhnliche Massnahmen. Um das Scheusal Putin zu stoppen, muss der Westen die Nase zuhalten – und auch diese Optionen ernsthaft prüfen.

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77 Kommentare
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Statler
07.03.2022 18:12registriert März 2014
Geht das nur mir so, oder haben auch andere den Eindruck, dass die übelsten Regimes auf dieser Welt auf den meisten Energieressourcen sitzen?

Höchste Zeit für eine Energiewende. Wirklich.
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Cpt. Jeppesen
07.03.2022 18:40registriert Juni 2018
So ist es halt, wenn man abhängig ist von Öl und Gas. Ist auch nicht so, dass die links-grün-versifften nicht Jahrzehnte vor genau so einem Szenario gewarnt hätten. Trotzdem ignoriert man für ein neues Handy oder die tollen Zalando Klamotten das Elend was damit angerichtet wird. Dabei ist die Ukrainekrise erst ein Vorgeschmack auf was da noch kommt. Wartet mal bis der Krieg ums Wasser beginnt.
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Salvatore_M
07.03.2022 18:20registriert Januar 2022
Als die Pandemie kam, dachten alle, das sei jetzt ein Weltereignis, aber in vielen Ländern hat man sich erstaunlich gut erholt, wenn auch die Pandemie bei den Menschen trotzdem ihre Spuren hinterlassen hat. Der Ukraine-Konflikt hat jedoch das Potential, zu wirklich tiefgehenden Verwerfungen in Weltpolitik und Weltwirtschaft zu führen. Meine Vermutung ist, dass deshalb der 24.02.2022 wirklich ein historischer Tag ist. Wieviel Unheil wird uns dieses Jahr noch bringen? Eigentlich sollte die ganze Welt zusammen etwas gegen die Klimaveränderungen tun, aber das scheint aktuell schwierig zu sein.
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