Nach dem gescheiterten Anschlag auf die argentinische Vizepräsidentin Cristina Kirchner macht die Regierung die konservative Opposition und die Medien für den Angriff mitverantwortlich. «Es ist weder ein einsamer Verrückter noch ein Einzelfall: Es sind drei Tonnen von Leitartikeln in Zeitungen, Fernsehen und Radio, die den gewalttätigen Reden den Weg bereiten», schrieb Innenminister Eduardo de Pedro am Freitag (Ortszeit) auf Twitter. «Sie haben ein Klima des Hasses und der Rache gesät und heute wurde uns das Ergebnis präsentiert - das versuchte Attentat auf Cristina Kirchner.»
Der gescheiterte Mordanschlag auf die genauso populäre wie umstrittene Politikerin rückt die tiefe Spaltung Argentiniens in den Fokus. Die sogenannte «grieta» (Riss) zwischen Rechts und Links zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Als starke Frau des linken Lagers wird Kirchner von ihren Anhängern fast religiös verehrt, von ihren Gegnern hingegen leidenschaftlich gehasst.
Tausende gingen am Freitag in Buenos Aires aus Solidarität mit Kirchner auf die Strasse. «Angesichts des Mordversuchs gegen die wichtigste Politikerin des Landes, kann niemand, der die Republik verteidigt, schweigen oder seine ideologischen Differenzen über die einmütige Ablehnung stellen», hiess es in einer gemeinsamen Erklärung, die die Präsidentin des Schauspielerverbands, Alejandra Darín, auf der Plaza de Mayo vor dem Regierungssitz verlas. «Seit Jahren wiederholt ein kleiner Zirkel von Politikern und Medien einen Diskurs des Hasses, der Verleumdung, der Stigmatisierung und der Kriminalisierung jedes volksnahen Politikers oder Anhängers des Peronismus.»
Kirchner war am Vorabend nur knapp einem Attentat entgangen. Als die Ex-Präsidentin (2007-2015) vor ihrer Wohnung im eleganten Stadtteil Recoleta in Buenos Aires ihre Anhänger begrüsste, richtete ein Mann aus kürzester Entfernung eine Waffe auf sie. Zeugenaussagen zufolge drückte er mindestens einmal ab, löste aber keinen Schuss aus. Daraufhin wurde er von Kirchners Anhängern niedergerungen und von der Polizei festgenommen.
Bei dem mutmasslichen Täter handelt es sich Medienberichten zufolge um einen gebürtigen Brasilianer, der schon seit längerem in Argentinien lebte. Im März 2021 wurde bei ihm ein Messer sichergestellt. In den sozialen Netzwerken soll er rechtsextremen Gruppen gefolgt sein. Zuletzt wurde der 35-Jährige zweimal im Fernsehsender Crónica interviewt. Dabei sprach er sich gegen die Regierung und staatliche Sozialprogramme aus. Auf dem rechten Ellenbogen trägt er eine Tätowierung der schwarzen Sonne, die während der Nazi-Diktatur von der SS verwendet wurde und heute als Erkennungssymbol in der rechtsradikalen Szene gilt.
«Er war ein Aussenseiter und hatte nichts zu verlieren, besonders nach dem Tod seiner Mutter. Man konnte alles von ihm erwarten», sagte ein früherer Freund des mutmasslichen Täters im Fernsehen. «Ich glaube, er wollte sie töten, aber leider hat er das nicht vorher geübt.» Offenbar war das Magazin der Tatwaffe bei dem Angriff geladen, allerdings befand sich keine Patrone im Lauf. Das hat Kirchner offenbar das Leben gerettet.
Die 69-Jährige gilt als Strippenzieherin in der argentinischen Regierung. Ihr gelang es immer wieder, der Regierung von Präsident Alberto Fernández ihren Willen aufzuzwingen. Für ihre Anhänger aus oft einfachen Verhältnissen gilt die Politikerin als Garantin für die für lateinamerikanische Verhältnisse üppigen Sozialprogramme.
Über ein grosses Netzwerk von sozialen Bewegungen, Gewerkschaften und Parteigruppen wie die ihr treu ergebene Jugendorganisation La Cámpora dominiert die charismatische Politikerin die Strasse. Das wurde wieder deutlich, als die Staatsanwaltschaft in einem Korruptionsverfahren gegen Kirchner zwölf Jahre Haft und eine lebenslange Sperre für öffentliche Ämter forderte. Sie soll über zweifelhafte Bauaufträge den Staat um umgerechnet etwa eine Milliarde Euro gebracht haben. Seitdem kampierten ihre Anhänger aus Solidarität auf der Strasse vor ihrer Wohnung im eleganten Stadtteil Recoleta in Buenos Aires. Immer wieder kommt es zu Auseinandersetzungen mit Nachbarn und der Polizei.
Nach dem Anschlagsversuch gegen Kirchner warf auch Präsident Fernández der Opposition und den Medien vor, den Hass gegen seine Regierung zu schüren. Die Vorsitzende der konservativen Partei PRO warf dem Staatschef daraufhin vor, das gescheiterte Attentat politisch auszuschlachten. «Der Präsident spielt mit dem Feuer: Anstatt einen schwerwiegenden Vorfall ernsthaft zu untersuchen, beschuldigt er die Opposition und die Presse», schrieb Patricia Bullrich auf Twitter. «Er macht aus einem Akt individueller Gewalt eine politische Aktion. Bedauerlich.» (sda/dpa)