Donald Trump wettert immer wieder gegen Demokratien. Die Europäische Union sei «gegründet worden, um die USA zu verarschen». Der Präsident der Ukraine, Wolodimir Selenski, ist ein «Diktator» und «spielt mit dem Dritten Weltkrieg». Kein böses Wort verliert er dagegen über Wladimir Putin, in dessen Russland ein kriegskritischer Dichter für sieben Jahre ins Straflager muss.
Damit hat die mächtigste Demokratie der Welt plötzlich einen Präsidenten, der demokratiefeindlich zu sein scheint. Und das in einer Zeit, in der sich die Staatsform ohnehin in einer Krise befindet, wie Experte Larry Diamond von der Stanford University warnt. Die Autokratie sei weltweit auf dem Vormarsch – und dies schon seit zwei Jahrzehnten.
Um das Jahr 2005 gab es eine Wende. Die Demokratie, die davor lange Zeit unbesiegbar schien, wurde wieder und wieder besiegt. Demokratien gingen zugrunde, Autokratien entstanden. Der erste solche autokratische Sieg ereignete sich in Russland.
Putin wurde im Jahr 2000 zum Präsidenten gewählt und zerstörte in seiner ersten Amtszeit die junge russische Demokratie. Er platzierte überall seine Kumpels aus Militär und Geheimdienst. Die Oligarchen machte er gefügig, schickte sie ins Exil oder ins Gefängnis. Kritiker, Journalisten und Oppositionelle wurden ermordet. Wahlen wurden zur Fassade, der Sieger stand von vornherein fest. So wurde Putin zum Vorbild moderner Autokraten. Andere sollten folgen.
«Demokratie ist wie ein Zug; man steigt aus, wenn man sein Ziel erreicht hat», soll der türkische Autokrat Recep Erdogan gesagt haben. Laut Demokratieforscher Diamond nutzten auch Viktor Orbán in Ungarn oder Narendra Modi in Indien solche Einwegfahrkarten an die Macht. Und nicht nur sie. Nahezu alle Autokraten, die in den letzten 20 Jahren an die Macht gelangt sind, seien diesem Drehbuch gefolgt.
Sie durften in einigermassen fairen Wahlen antreten. Gewannen die Macht. Und manipulierten dann das Prozedere in den nächsten Wahlen zu ihren Gunsten, beispielsweise durch eine mediale Vorzugsbehandlung oder gefügige Richter. Sie nahmen anderen das Recht auf faire Wahlen, von dem sie selbst Gebrauch gemacht hatten.
Putin, Orbán, Modi und Erdogan stehen für eine globale Krise der Demokratie – doch wie tief ist diese Krise wirklich? Was sagen die Zahlen? Dieser Frage sind Demokratieforscher an der Universität Oxford nachgegangen. Demnach kann man diese Krise richtig schlimm oder halb so schlimm finden.
Schlimm sieht es aus, wenn man auf die 20 Jahre seit 2005 blickt. Die Demokratie hat nach den meisten statistischen Kriterien einige üble Niederlagen erlitten.
So ist die Zahl der liberalen Demokratien gefallen. Das sind Länder mit fairen Wahlen und einem Rechtsstaat, in dem jeder öffentlich ein kriegskritisches Gedicht aufsagen darf und Gerichte die Staatschefs einschränken können. Um 2005 gab es 43 liberale Demokratien, 2023 noch 32. In 11 Ländern sind die Menschen also neu nicht mehr durch einen Rechtsstaat geschützt. Das sind beispielsweise Ungarn, Israel und Griechenland sowie in Afrika etwa Ghana oder Botswana.
Die Zahl der Wahldemokratien ist gefallen. Das waren Länder, die zuvor zwar keinen starken Rechtsstaat hatten, aber immerhin noch kompetitive Wahlen – und auch diese Wahlen verloren haben. Solche Fälle waren selten, aber entscheidend: Mit der Türkei (84 Millionen Menschen) und vor allem mit Indien (1,4 Milliarden) sind zwei bevölkerungsreiche Länder ins autokratische Lager gewechselt. Deshalb leben heute deutlich weniger Menschen in demokratischen Staaten. 2016 waren es auf dem Höhepunkt etwa 3,9 Milliarden. 2023 noch 1,3 Milliarden.
Und es gibt mehr Länder als 2005, die autokratischer werden. Sie zählen vielleicht noch zu den Demokratien. Aber die Bürgerrechte wurden abgebaut oder ganz abgeschafft, die Wahlen sind noch weniger fair. Die Zahl solcher Länder ist heute höher als je zuvor in den letzten 120 Jahren. In Russland zum Beispiel hatte Putin vor dem Ukrainekrieg noch Demonstrationen zugelassen, heute werden Kriegskritiker weggesperrt.
Doch es sieht entschieden weniger schlimm aus, blickt man auf die letzten 150 Jahre. Es ging oft rückwärts, aber dann wieder vorwärts. Rückwärts zum Beispiel in den 1960er- und 1970er-Jahren, als 18 Demokratien fielen. Vorwärts ab 1974, als Diktatoren in Griechenland, Portugal und Spanien stürzten. Der damalige US-Präsident Jimmy Carter forcierte Demokratien in Südamerika, einmal gar per Kriegsschiff. Zufall oder nicht, aber später kippten 7 Länder, darunter Brasilien und Argentinien.
Die Experten der Universität Oxford sehen das Glas lieber halb voll: Es habe zwar tatsächlich Rückschritte gegeben. Aber noch immer seien ungefähr die Hälfte aller Länder demokratisch – und damit nicht viel weniger als auf dem historischen Höchststand der frühen 2000er-Jahre.
Für den US-Professor Diamond hingegen scheint das Glas eher halb leer auszusehen. Wohl, weil er nicht nur auf die Zahlen schaut, sondern auf mächtige Trends, welche den Autokraten helfen.
Eingesetzt haben diese Trends in den 2000er-Jahren. Der damalige US-Präsident George W. Bush versagte laut Diamond gleich doppelt – und schadete damit dem weltweiten Ansehen der Demokratie bis heute.
Einmal im Ausland. Bush beschuldigte Iraks Diktator Saddam Hussein, nukleare Waffen zu besitzen. Führte Krieg. Fand die Waffen nicht. Und scheiterte mit dem Versuch, eine Demokratie aufzubauen.
Dann in den USA. Jahrelang sei Bush tatenlos geblieben, als die Banken «räuberischen» Praktiken nachgingen. 2007 crashten sie, rissen die Welt in eine Finanzkrise – und destabilisierten viele Regierungen, auch demokratische.
Die Autokraten helfen gern, die Demokratie in den Dreck zu ziehen. China tat dies mit Propaganda und verdeckter Einflussnahme. Sein zunehmendes wirtschaftliches Gewicht verschaffte die Ressourcen dafür. Russland griff in demokratische Wahlen ein und unterstützte europaweit EU-feindliche Parteien.
Geschwächt wurden viele Demokratien auch durch die ungleiche Einkommensentwicklung. Eine kleine Elite wird viel reicher. Grosse Teile der Mittelschicht steigen ab. Viele Menschen seien verunsichert durch die zunehmende Migration von Ideen, Kulturen und Menschen über nationale Grenzen hinweg. Etablierte Hierarchien geraten ins Wanken durch Kampagnen, Geschlechter und Minderheiten gleichzubehandeln.
Diamond fordert deshalb eine neue Strategie, um die Autokraten wieder von der Macht zu trennen – via ihre Schwachstelle. Denn sie veranstalteten noch immer Wahlen, um ihre Macht zu legitimieren. Das macht sie angreifbar.
Die Wahlen können zutiefst unfair sein, aber der amtierende Autokrat kann trotzdem verlieren. So wie Polen die immer autokratischer regierende Pis-Partei abgewählt wurde. Dann kann laut Diamond die Demokratie wieder global zulegen. Vielleicht selbst in Russland, wo Putin den autokratischen Gegentrend vor 20 Jahren anstiess. Diamond sagt:
Den beste Schutz vor den Autokraten würden ein sozialer Ausgleich und ein sicheres Einkommen bieten. Mit der SVP/FDP-Dominanz geht es in die falsche Richtung.