2014 lief es ganz einfach. Noch in der Nacht der Europawahl einigten sich der konservative Spitzenkandidat Jean-Claude Juncker und der Sozialdemokrat Martin Schulz auf die Teilung der Macht: Der Luxemburger sollte Chef der EU-Kommission werden und der Deutsche Parlamentspräsident bleiben. Die Staats- und Regierungschefs murrten, gaben am Ende aber nach.
Fünf Jahre später ist alles komplizierter. Das traditionelle «Machtkartell» aus Konservativen und Sozialdemokraten hat am Sonntag die Mehrheit im EU-Parlament verloren. Dafür haben Liberale, Grüne und Rechtsnationale zugelegt. Wer einen der Spitzenposten will, braucht neu die Unterstützung von mindestens drei Fraktionen. Eine schnelle Einigung ist unwahrscheinlich.
Wenn die Staats- und Regierungschefs sich am Dienstagabend zum Nachtessen treffen, werden sie anders als 2014 kaum einen Personalvorschlag auf dem Tisch vorfinden. Das öffnet die Türe für Machtspiele, zumal in diesem Jahr fünf Topjobs in der EU neu besetzt werden müssen. Eine wichtige Rolle spielt die Ausgewogenheit zwischen Geschlechtern und Regionen.
Manfred Weber, der Spitzenkandidat der konservativen EVP, hat am Montag seinen Anspruch auf das mächtigste Amt in der EU bekräftigt. Die EVP ist weiterhin die stärkste Fraktion im Parlament, aber sie hat deutliche Verluste erlitten. Der 46-jährige Weber ist auch persönlich umstritten. Er hat nie einen Regierungsposten bekleidet und ist selbst in seiner Heimat Deutschland kaum bekannt.
Das lässt sich vom 58-jährigen Sozialdemokraten Frans Timmermans nicht behaupten. Seine in den letzten Jahren arg gebeutelte Partei hat die Europawahl in den Niederlanden überraschend gewonnen. Timmermans' Hoffnung auf eine Koalition mit Liberalen und Grünen hat allerdings einen Dämpfer erlitten. Sie hätte selbst mit der äusseren Linken keine Mehrheit im EU-Parlament.
Für die liberale ALDE-Gruppe will die Dänin Margrethe Vestager als erste Frau das Präsidium übernehmen. Sie hat sich als Wettbewerbskommissarin einen guten Ruf erworben. Ihr wird jedoch angekreidet, dass sie nicht als Spitzenkandidatin angetreten ist, sondern ihre Ambitionen erst in der Wahlnacht publik gemacht hat. Damit fehle ihr die Legitimation durch die Wählerschaft, meinen Kritiker.
Das gilt erst recht für Michel Barnier. Der konservative Franzose war durch seinen Job als Brexit-Chefunterhändler der EU absorbiert. Dennoch gilt er als eine Art «Dark Horse». Barnier soll über einigen Respekt und Rückhalt bei den Mitgliedsstaaten verfügen. Wenn es dem Parlament nicht gelingt, sich auf einen mehrheitsfähigen Kandidaten zu einigen, könnte der 68-Jährige zum Zug kommen.
Er leitet und organisiert die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs und setzt die Themen. Amtsinhaber Donald Tusk tritt Ende November ab. Ihn zieht es zurück in die polnische Politik. Als Nachfolgerin ist unter anderem die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel im Gespräch. Sie hat zweideutige Signale ausgesandt, zuletzt aber klargemacht, dass sie den Job nicht will.
Als weitere Anwärter gelten der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte und sein belgischer Kollege Charles Michel. Hoch gehandelt wird die scheidende litauische Staatspräsidentin Dalia Grybauskaite. Sie ist in ihrer Heimat populär und geniesst auch in der EU ein positives Image. Als Frau, Osteuropäerin und Vertreterin eines Kleinstaats würde sie zudem mehrere Kriterien erfüllen.
Das neu gewählte Parlament dürfte bei seiner konstituierenden Sitzung am 2. Juli den Präsidenten oder eine Präsidentin wählen. Derzeitiger Amtsinhaber ist Antonio Tajani. Der 65-jährige Vertreter von Silvio Berlusconis Partei Forza Italia will offenbar bleiben. Als Alternative könnte Manfred Weber ins Spiel kommen, falls er beim Kommissionspräsidium «ausgebootet» wird.
Der «Aussenminister» der EU gehört der Kommission an, hat aber einen relativ unabhängigen Status. Er wird vom Europäischen Rat ernannt, also den Staats- und Regierungschefs. Als möglicher Nachfolger der abtretenden Italienerin Federica Mogherini gilt Frans Timmermans. Er erfüllt als ehemaliger niederländischer Aussenminister die Voraussetzungen.
Der Zufall will es, dass dieses Jahr auch das Amt des obersten Währungshüters der Eurozone frei wird. Der Italiener Mario Draghi kann nach acht Jahren an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) nicht mehr antreten. Mit seinem Ausspruch «Whatever it takes» verhinderte er eine Eskalation der Eurokrise, doch die strukturellen Probleme der Einheitswährung bleiben ungelöst.
Als Nachfolger im Gespräch ist Jens Weidmann, der Chef der Deutschen Bundesbank. Es heisst, dass Angela Merkel für seine Ernennung sowohl ihren «Parteifreund» Manfred Weber als auch allfällige eigene Ambitionen opfern würde. Weidmann gilt jedoch als «Hardliner». Er ist ein Kritiker von Draghis lockerer Geldpolitik und dürfte vor allem in den Südländern auf Widerstand stossen.
Als Alternativen gelten zwei Franzosen und zwei Finnen. Auf der einen Seite handelt es sich um EZB-Direktoriumsmitglied Benoît Coeuré und François Villeroy de Galhau, den Vorsitzenden der französischen Notenbank. Ihnen stehen der finnische Zentralbankchef Olli Rehn und dessen Vorgänger Erkki Liikanen gegenüber. Der neue EZB-Chef tritt sein Amt am 1. November an.
Erste Personalentscheide werden am regulären Halbjahresgipfel der Staats- und Regierungschefs am 21. und 22. Juni erwartet. Wegen der deutlich höheren Wahlbeteiligung werden sie das Parlament nicht einfach übergehen können. Die Fraktionschefs stellten am Dienstag klar, dass für sie nur jemand aus den Reihen der Spitzenkandidaten als Kommissionschef in Frage kommt.
Auf einen Namen festlegen konnten sie sich allerdings nicht. Das Prozedere könnte sich deshalb in die Länge ziehen. Bereits wird spekuliert, dass die Juncker-Kommission über ihr «Verfalldatum» am 31. Oktober hinaus im Amt bleiben könnte. Eine möglichst ausgewogene Vertretung könnte am Ende zweitrangig sein. Schliesslich werden derzeit drei der fünf Topjobs von Italienern bekleidet.