Es war ein letzter, dramatischer Appell an die Vernunft der Abgeordneten: Sie sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein und an das übergeordnete Interesse der Nation denken, deklamierte Michel Barnier am Dienstagabend auf den wichtigsten Fernsehsendern. «Die Situation ist ernst», erklärte der konservative Regierungschef. «Wir müssen aufpassen, denn es gibt starke Spannungen im Land.»
Der Aufruf erfolgte wohl zu spät: Die Rechtsnationale Marine Le Pen bekräftigte darauf unbeeindruckt, ihr Rassemblement National (RN) werde in der Nationalversammlung den Misstrauensantrag der Linksfront unterstützen. Arithmetisch kommen die beiden Oppositionskräfte auf die Mehrheit von 289 von 577 Sitzen. Die Tage von Barnier im Hôtel Matignon, dem Regierungssitz, scheinen damit gezählt; am Ausgang der Abstimmung am heutigen Mittwochabend zweifelte in Paris niemand mehr.
Sogar Präsident Emmanuel Macron, der derzeit auf Staatsbesuch in Saudi-Arabien weilt und von dort aus den «unerträglichen Zynismus» der Opposition geisselte, soll in seinen freien Minuten bereits über der Nachfolge Barniers brüten.
Der Auslöser für den angekündigten Regierungssturz war ein abrupter Kurswechsel Le Pens. Bisher hatte die RN-Gründerin Barniers minoritäre Mitterechtsregierung geduldet. Um ihre Chancen bei den Präsidentschaftswahlen von 2027 zu erhöhen, gab sie sich seit der Nominierung des 73-jährigen Premiers anfangs September staatstragend republikanisch; Barnier brachte damit einige Vorlagen durch.
Am Montag gab Le Pen aber bekannt, dass sie das Sozialversicherungs-Budget zurückweise und einen Misstrauensantrag – in Frankreich «censure» genannt – der Linken mittrage. Das war gleichbedeutend mit dem Todesurteil der noch nicht einmal drei Monate alten Barnier-Regierung.
Warum sie Barnier fallenlässt, sagte Le Pen nicht wirklich. Zwei Gründe dürften den Umschwung herbeigeführt haben. Der erste ist wahlpolitisch bedingt: Le Pen führt heute laut Umfragen in den meisten Bevölkerungs- und Alterskategorien – ausser bei den Senioren. Dass Barnier den automatischen Teuerungsausgleich im Haushalt 2025 um ein halbes Jahr aufschieben will, ist für Le Pen ein gefundenes Fressen: Mit ihrem Njet zu diesem faktischen Rentenabbau hofft sie die Wählerschaft im Ruhestand für sich zu gewinnen.
Der zweite – und wohl entscheidende – Grund ist taktischer Natur. Mitte November hat die Staatsanwaltschaft im RN-Prozess wegen Veruntreuung von EU-Geldern nicht nur eine – modifizierbare – Haftstrafe für Le Pen verlangt, sondern auch ihre Unwählbarkeit für mindestens fünf Jahre. Das ist eine politische Bombe: Die dreifache Präsidentschaftskandidatin würde an einer neuen Bewerbung 2027 gehindert; Le Pens zehnjähriger Anlauf ins Elysée wäre im Eimer.
Das Urteil, das für Le Pen alles ändert, ist auf den 31. März angesetzt. Um ihm zuvorzukommen, will Le Pen offenbar versuchen, vorgängig eine neue Präsidentschaftswahl zu provozieren. Der erste Schritt dazu ist der Sturz der Regierung Barnier. Er würde und wird notgedrungen auf Macron zurückfallen. Denn dass die Barnier-Regierung so fragil ist, hat sie allein dem Präsidenten zu verdanken: Er hatte im Juni ohne Not Neuwahlen angesetzt – und verloren.
Seither dominieren extreme Kräfte die Pariser Politik – zur Rechten Le Pen, zur Linken das «Unbeugsame Frankreich» von Jean-Luc Mélenchon. Macron ist politisch isoliert; seine Popularität ist mit 17 Prozent so tief wie bei keinem seiner Vorgänger zuvor.
«Der König ist nackt», kommentierte das linke Newsportal Regards diese Woche kurz und prägnant. Macron hat kaum mehr Optionen. Sollte seine Regierung die «censure» am Mittwochabend überraschend überleben, bliebe sie angeschlagen und wäre kaum mehr handlungsfähig. Ein Regierungssturz würde die Stellung des Präsidenten noch mehr untergraben.
Neue Neuwahlen sind aus Verfassungsgründen erst wieder im kommenden Sommer möglich, und solange ist jede Macron-Regierung dem Klammergriff Le Pens und Mélenchons machtlos ausgeliefert. Würde Le Pen auch die nächste Regierung bald wieder stürzen, könnte sich auch Macron nicht mehr lange halten.
Schon heute erschallen immer mehr Rufe, der Präsident solle zurücktreten und die Bahn frei für einen Neubeginn machen. Die «Unbeugsamen» haben in einer Petition zur Amtsenthebung Macrons bereits 378'000 Stimmen gesammelt; auf der Rechten legen nicht nur RN-Abgeordnete, sondern auch liberale Ex-Minister wie Jean-François Copé dem tief gefallenen Staatschef den Rücktritt nahe. Sie verweisen darauf, dass Frankreich mehr und mehr auch eine Wirtschafts- und Finanzkrise droht, solange die politische Regimekrise nicht ausgestanden ist.
Le Pen weiss, dass Macron von seinem selbstbezogenen Naturell nicht freiwillig abtreten wird. Aber sie kann davon ausgehen, dass der Präsident nicht länger standhalten könnte, wenn sie nach Barniers Sturz auch den nächsten Premier bald wieder absägen würde. Niemand rechnet mehr damit, dass Macron bis zu seinem Mandatsende 2027 durchhalten wird. Ausser vielleicht er selbst.