Der Brexit ist weiter in der Schwebe. Wird Grossbritannien an der Europawahl Ende Mai teilnehmen?
Denis MacShane: Das lässt sich nur vermeiden, wenn Theresa May nach den Osterferien im Unterhaus eine Mehrheit für ihren Deal erhält. Dafür gibt es keine Anzeichen. Die konservativen Hardliner sind entschlossen, den Deal abzulehnen, weil sie eine totale Amputation von Europa anstreben. Und May scheint nicht gewillt, einen für die Labour-Partei befriedigenden Kompromiss anzubieten. Man muss davon ausgehen, dass Grossbritannien in naher Zukunft nicht in der Lage sein wird, die EU mit einem Abkommen zu verlassen. Darum: Ja, die Europawahl wird stattfinden.
Könnte diese Wahl zu einer Art zweitem Referendum über den EU-Austritt werden?
Das nicht, aber sie wird ein wichtiger Indikator für die Sympathien der Wählerschaft sein. Die Brexit-Stimmen werden sich auf die Konservativen, UKIP und Nigel Farages neue Ein-Mann-Partei verteilen. Das Anti-Brexit-Lager besteht aus Liberaldemokraten, Grünen sowie den schottischen und walisischen Nationalisten. Labour wird vermutlich eine mittlere Position einnehmen und das von den Parteimitgliedern geforderte neue Referendum propagieren.
Wie könnte die britische Europawahl ausgehen?
Früher waren diese Wahlen Protestvoten gegen die Einwanderung aus der EU und die Regierungen von Tony Blair, Gordon Brown und David Cameron. Die Zuwanderung aber ist seit der Brexit-Abstimmung stark rückläufig, wodurch die Bedeutung dieses Themas abnimmt. Und Mays Regierung ist unpopulär, eine Mehrheit der Wählerschaft ist heute klar gegen den Brexit. Aber Meinungsumfragen sind das eine, am Ende entscheidet das Stimmvolk. Es könnte eine grosse Überraschung geben und die Europawahl zur Enttäuschung für Nigel Farage werden.
Theresa May hat sich auf die Opposition zubewegt. Wie beurteilen Sie die Chance, dass es mittelfristig zu einem Kompromiss kommen könnte, etwa einen «softeren» Brexit?
Das hängt zu einem grossen Teil von der britischen Wirtschaft ab. Bislang haben sich die Wirtschaftsführer unter der Bettdecke verkrochen. Sie beklagen die Folgen eines No-Deal-Brexits, wollen aber nicht zu stark in die Debatte hineingezogen werden. Mit Theresa Mays Deal aber würde das Vereinigte Königreich den gemeinsamen Markt und die Zollunion verlassen.
Welches wären die Folgen?
Der Dienstleistungssektor macht 80 Prozent der britischen Wirtschaft aus. Er besteht aus Banken, Versicherungen, Bildung, Architektur, Kultur. Mit Mays Vorschlag wird dieser Teil der britischen Wirtschaft von der EU abgeschnitten und gleichzeitig eine gewaltige Einwanderungsbürokratie installiert, die Bürger der EU daran hindern würde, so frei wie heute in London und im Vereinigten Königreich zu arbeiten. Das wird Firmen aus allen Sektoren unter Druck setzen. Die Frage ist, ob die Wirtschaft nun ihrerseits Druck auf die Politik ausüben wird, um den Schaden zu verhindern, den der Brexit anrichten würde.
Von welchem Szenario gehen Sie aus?
Gemäss der Ratingagentur Standard & Poor’s wird die britische Wirtschaft durch den EU-Austritt um drei Prozent schrumpfen. Das Aubleiben neuer Investitionen und die Verlagerung existierender Firmen und Investments sind ein grosses Thema in der Brexit-Debatte. Ich denke, wir werden ein Szenario erleben, das ich «Brexiternity» nenne: Jahrelange schwierige Verhandlungen und mindestens ein Jahrzehnt Unsicherheit für die britische Wirtschaft und Gesellschaft.
Wie erklären Sie jemandem vom Kontinent, was sich gerade im Königreich abspielt?
Ich verweise auf die Religionskriege im 17. Jahrhundert oder vielleicht den amerikanischen Bürgerkrieg, als Fundamentalisten die Südstaaten aus der amerikanischen Union führen wollten. Genauso wollen englische Ideologen nun Grossbritannien aus der EU führen. Der Brexit ist 2016 nicht einfach so passiert. Er war das Ergebnis einer 20-jährigen politischen Vorarbeit, unterstützt von antieuropäischen Medien, die oft Männern gehören, die gar keine britischen Staatsbürger sind oder hier keine Steuern zahlen. Diese Zeitungen haben täglich Anti-EU-Propaganda verbreitet.
Und was ist mit der Politik?
Natürlich gibt es schillernde Charaktere wie Nigel Farage, der selber aus vermögenden, elitären Verhältnissen stammt. Aber erst die antieuropäische Politik der Mainstream-Parteien und ihrer Vertreter hat die Atmosphäre geschaffen, die zum Brexit geführt hat. Labour war bis 1985 antieuropäisch, und die Konservativen haben sich nach dem Maastrichter Vertrag von 1992 gegen Europa gewandt. Es gab in Grossbritannien nie einen politischen Konsens zur Europafrage.
Sie waren Abgeordneter im Unterhaus. Können Sie das endlose Chaos im Parlament verstehen?
Seit ich 1994 ins Parlament gewählt wurde, hatte ich mit Bestürzung und zunehmender Besorgnis die Zunahme der Anti-EU-Demagogie im Unterhaus mitverfolgt. Nachdem Tony Blair 1997 Premierminister wurde, haben die Konservativen ihre EU-feindliche Linie verstärkt, mit zunehmender Polemik gegen Arbeitskräfte aus Europa. Unter David Cameron trat die konservative Partei aus der Europäischen Volkspartei aus. Es war der erste politische Brexit. Danach bestand er darauf, seine unselige Volksabstimmung durchzuführen, trotz klaren Warnsignalen, dass sie in eine populistische Hasskampagne gegen Einwanderer ausarten würde. Ich selbst habe schon 2015 in einem Buch vor dem Brexit gewarnt, aber weder die Wirtschaft noch Elitemedien wie «Financial Times», «Economist» und BBC haben mich oder den Brexit ernst genommen.
Verfügt Theresa May noch über Autorität in ihrer Partei?
Man kann nicht drei wichtige Abstimmungen im Unterhaus verlieren und annehmen, man verfüge noch über Autorität in der britischen Politik. 30 Kabinettsmitglieder sind aus Protest gegen ihren Umgang mit dem Brexit zurückgetreten. Sie wird regelmässig beschuldigt, die konservative Partei zu «verraten» oder zu ruinieren. Ich kann mich an keinen Premierminister erinnern, der von Abgeordneten der eigenen Partei dermassen verachtet und öffentlich verspottet wurde.
Welche Fehler hat May gemacht?
Hat sie mit irgend etwas Erfolg gehabt? Das britische Bruttoinlandsprodukt ist 2,5 Prozent tiefer als bei ihrem Amtsantritt. Rund eine Billion Pfund wurden aus der Londoner City in die EU transferiert. EU-Bürger verlassen wichtige Arbeitsplätze in Grossbritannien, gleichzeitig gibt es einen Anstieg der Fremdenfeindlichkeit gegenüber Europäern. Die öffentlichen Dienste – Gesundheitswesen, Schulen, Ämter, Strassenreinigung – sind in schlechter Verfassung. Man sieht Bettler vor jeder U-Bahn-Station in London und jedem Supermarkt im Land. Präsident Trump kritisiert sie, Macron und Merkel bemitleiden sie. Ich will nicht unhöflich sein, aber Theresa May gehört sicherlich zu den schlechtesten britischen Premierministern, seit dieser Posten vor 300 Jahren geschaffen wurde.
Warum lehnen die Brexit-Hardliner die Backstop-Lösung für Nordirland so dezidiert ab?
Ein Aspekt, den Mrs. May begriffen hat, ist die Bedrohung für den Frieden in Nordirland. Jede Art von Grenze mit Zollkontrollen würde zum Ziel militanter irischer Nationalisten. Es handelt sich um kleine Gruppen, die jegliche britische Präsenz in Irland ablehnen und die Wiedervereinigung unter der Regentschaft von Dublin anstreben. Sie verfügen über Waffen und Sprengstoff und nehmen bevorzugt Installationen an der Grenze ins Visier. Polizei und Geheimdienste in Belfast, Dublin und London sind deshalb überzeugt, dass eine «harte» Grenze das Ende des Karfreitagabkommens von 1998 bedeuten würde. Umgekehrt bedeutet dies, dass Nordirland und damit wohl das gesamte Königreich sich an die Zollregeln der EU und andere Vorschriften halten müssten.
Und das wollen die Brexiteers nicht hinnehmen?
Sie wollen die totale Abspaltung von der EU, um Handelsabkommen mit dem Rest der Welt abschliessen zu können, etwa den USA und Indien. Die Amerikaner aber verlangen, dass sie Hormonfleisch und Chlorhühnchen nach Grossbritannien verkaufen dürfen. Das wird die britische Öffentlichkeit niemals akzeptieren. Gleiches gilt für die visafreie Einreise für 1,3 Milliarden Inder, die Indien als Teil eines Freihandelsvertrags mit Grossbritannien fordert. Aber in einem Religionskrieg geht es um Symbolik, und die Brexit-Hardliner sind bereit, den Frieden in Irland aufs Spiel zu setzen, um die totale und vollständige Trennung von der EU zu erhalten.
Labour, Ihre Partei, hinterlässt in der Brexit-Debatte ebenfalls keinen guten Eindruck. Ist Parteichef Jeremy Corbyn das Problem?
Er war nie sonderlich überzeugt von Europa. Aber es geht weniger um Corbyn als um Millionen Labour-Wähler besonders in den postindustriellen Gebieten. Viele Leute aus der Arbeiterklasse fühlen sich im Stich gelassen und von der Globalisierung und der Londoner Elite ignoriert. Ihre Stimme für den Brexit war ein Protest gegen die Einwanderung und die Elite. Corbyns Fehler war, ihren Vorurteilen gegenüber der Personenfreizügigkeit nicht stärker zu begegnen, weil er diesen Aspekt der EU, bei dem es um offene Märkte geht, selber nicht mag. Corbyn und Labour verhalten sich wie Passagiere auf der Brexit-«Titanic», die genüsslich die Streitereien auf der Brücke mitverfolgen, während Kapitän May versucht, das Schiff um den Brexit-Eisberg herumzusteuern.
Welches Kalkül verfolgen sie damit?
Labour glaubt, vom Brexit profitieren zu können. In den meisten Meinungsumfragen von 2019 aber liegen die Tories vor Labour. Jeremy Corbyn hat es in drei Jahren nicht geschafft, eine Antwort auf den Brexit oder eigene Ideen zu entwickeln. Die wahre Opposition bilden die rund eine Million Menschen, die im März in London demonstriert haben, und die sechs Millionen, die eine Petition gegen den Brexit unterzeichnet haben. Diese Initiativen stammen aus der Zivilgesellschaft, ohne Beteiligung von Corbyn oder Labour. Neun Labour-Abgeordnete haben die Partei aus Protest verlassen. Der Brexit hat die Schwäche und die fehlende intellektuelle Autorität in den beiden grossen Parteien offengelegt und in der Öffentlichkeit zu einer grossen Desillusionierung geführt.
Trotz des Chaos scheint eine beträchtliche Zahl der Briten den EU-Austritt noch immer zu unterstützen.
Das «Chaos» betrifft die politische Klasse und den internationalen Ruf des Königreichs. Aber vergessen Sie nicht: Der Brexit hat noch nicht stattgefunden. Alle Grenzen sind offen. Die japanischen Autobauer und Airbus haben ihre Fabriken nicht geschlossen und das Land verlassen. 284'000 britische Besucher sind in diesem Februar nach Spanien geflogen, auf sie hatte der Brexit noch keinen Einfluss. So lange die Folgen nicht spürbar sind, werden die Anti-EU-Gefühle in ganz Europa, inklusive Schweiz, stark bleiben, besonders wenn sie von Populisten angefeuert werden.
Sie haben den Begriff Brexiternity erwähnt, also eine Art Endlos-Brexit. Was verstehen Sie genau darunter?
So lange es keine Umkehr durch eine neue Abstimmung gibt, wird der Brexit die wirtschaftlichen, politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und internationalen Beziehungen für mindestens ein Jahrzehnt dominieren, wenn nicht länger. In diesem Sinn wird der Brexit zu keinem klaren Abschluss gelangen. Vielmehr werden damit verbundene Themen für viele Jahre einen Schatten auf das Leben in Grossbritannien werfen.
Was sind die Folgen für die britische Politik?
Sie sind massiv. Keine der klassischen Parteien des 20. Jahrhunderts – Konservative, Labour, Liberale – war in der Lage, eine gute Antwort auf den Brexit zu finden. Hochrangige Konservative wollen Theresa May absetzen, aber jeder Nachfolger dürfte noch europafeindlicher auftreten. Jeremy Corbyn und sein Schattenkabinett befinden sich in der Endphase ihres politischen Lebens, doch Labour war nicht in der Lage, neue Führungspersönlichkeiten hervorzubringen. Dabei legt der Brexit seit drei Jahren die britische Politmaschinerie lahm. Die Politiker werden von der Öffentlichkeit verachtet wie nie seit den 1930er Jahren.
Das tönt beunruhigend. Wo könnte das hinführen?
Man hat das Gefühl, dass sich die britische Politik regelrecht auflöst. Derzeit erscheinen viele Bücher, die eine neue Politik fordern, basierend auf zivilgesellschaftlichem Engagement, Dezentralisierung, Kompromiss und Koalitionen. Der Brexit könnte zu einer Art Geburtshelferin werden, doch dieser Prozess hat gerade erst begonnen, und niemand weiss, wie er enden wird.
Wie heisst bloss, dieser deutschstämmige Störenfried, dem die Schweiz diesen damaligen Schwexit mit all den Problemen und dem Zwist in den letzten Jahrzehnten zu verdanken hat?