Aus der Distanz hat man den Eindruck, der Wahlkampf in Frankreich finde kaum statt. Wie sehen Sie das vor Ort?
Joseph de Weck: Bis vor wenigen Tagen war es ein Nicht-Wahlkampf. Beim Lunch oder abends beim Bier mit Freunden redet man erst seit Kurzem über die Wahl. Schon 2017 wohnte ich in Paris, und da sprachen die Französinnen und Franzosen monatelang über kein anderes Thema. Am Ende konnte ich es nicht mehr hören (lacht).
Die Frage stellt sich trotzdem: Wer wird am 24. April in der Stichwahl gewinnen?
Ich gehe davon aus, dass es wie 2017 zu einem zweiten Wahlgang zwischen Emmanuel Macron und der rechtsextremen Marine Le Pen kommt. Damals gewann Macron mit 66 zu 34 Prozent. Diesmal wird es viel knapper, aber eventuell nicht dermassen knapp wie in den jüngsten Umfragen. Macron dürfte im besten Fall mit rund 55 zu 45 Prozent wiedergewählt werden.
Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Frankreich kennt das «Reverse Shy Voter»-Phänomen. In den USA oder Grossbritannien unterschätzen Umfragen die Rechtspopulisten, weil sich viele Befragte scheuen, ihre rechtsextreme Meinung zu bekunden. In Frankreich verhält es sich umgekehrt. Bei den Populisten muss man drei oder vier Prozent abziehen vor dem zweiten Wahlgang.
Warum ist das der Fall?
Aus zwei Gründen. Erstens sagen im Vorfeld viele Leute, sie würden im zweiten Wahlgang zu Hause bleiben oder Le Pen wählen, sollte es ihr Kandidat nicht in die Stichwahl schaffen. Aber am Schluss stimmen sie trotzdem für Le Pens Gegner. In Frankreich tut sich oft eine Kluft auf zwischen dem, was gesagt und was dann getan wird.
Und der zweite Grund?
Le Pen hat in der Regel das Problem, ihre ländliche Wählerschaft mit tiefem Bildungsgrad zu mobilisieren. Das ist vermutlich nach wie vor der Fall. Macrons eher urbane, gut ausgebildete und besserverdienende Anhänger dagegen gehen fast immer zur Wahl.
Trotzdem warnen Politiker wie Macrons erster Regierungschef Édouard Philippe vor einem Sieg von Marine Le Pen. Ist das Wahlkampftaktik oder steckt mehr dahinter?
Macron hat bei seiner grossen Wahlkampfkundgebung am vergangenen Samstag auch gesagt, dass ein Sieg Le Pens möglich sei. Es war sein wichtigstes Statement. Natürlich ist das Wahlkampftaktik. Jeder Zentrist hat in den letzten Jahrzehnten mit der Angst vor Le Pen gearbeitet, um die eigenen Wähler zu mobilisieren. Heute ist das noch wichtiger, da der Wahlkampf kaum stattgefunden hat. In den Abendnachrichten am TV, die in Frankreich eine Stunde dauern, war der Wahlkampf letzte Woche noch ein Randthema. Die Ukraine dominierte bis vor kurzem den Newsflow. Mein Nachbar, den ich heute morgen im Treppenhaus traf, hatte echt keine Ahnung, dass der erste Wahlgang schon diesen Sonntag stattfindet. Seine Tochter wusste besser Bescheid.
Macron hat auf den Brexit und den Wahlsieg von Donald Trump 2016 verwiesen. Auch damals glaubten viele bis zuletzt nicht, dass es geschehen würde.
Macron hat für solche Risiken seit je ein Sensorium. Er weiss, dass in einer Demokratie durchaus möglich ist, was Kommentatoren für Undenkbar halten. Seine Überraschungswahl 2017 ist ja der beste Beweis. So ist auch seine Warnung vor einem Sieg von Marine Le Pen zu verstehen. Ihr Triumph ist immer noch unwahrscheinlich, aber rückt erstmals überhaupt in den Bereich des Möglichen.
Hat der Nicht-Wahlkampf auch mit Macrons Person zu tun? Er hat zeitweise stark an Beliebtheit eingebüsst.
Das lag an äusseren Umständen, der Corona-Pandemie, dem Krieg in der Ukraine. Überdies sind Wahlkämpfe, in denen sich ein Präsident um die Wiederwahl bemüht, immer langweiliger als offene Wahlen. Doch Macron ist heute viel populärer als seine Vorgänger Nicolas Sarkozy und François Hollande am Ende ihrer Amtszeit. Er liegt bei 46 Prozent Zustimmungswerten. Sarkozy kam auf rund 36 und Hollande auf 22 Prozent.
Das kontrastiert mit der Wahrnehmung von aussen.
Stimmt. Denn ein Teil der Bevölkerung hasst Macron. Die Ablehnung ist heftiger, aber weniger breit als bei seinen Vorgängern. 2007 gaben 55 Prozent der Befragten an unter keinen Umständen Sarkozy zu wählen. Bei Macron sind es bloss 38 Prozent. Macron ist also noch immer der Favorit. Wenn Marine Le Pen es aber für einmal schaffen sollte, ihre Wählerschaft zu mobilisieren und im ersten Wahlgang besser dazustehen als in den Umfragen, steigen die Chancen für einen Erfolg der Rechtsextremisten. Aber wie gesagt, viel müsste zusammenpassen.
Sie wird aber besser abschneiden als vor fünf Jahren. Wieso ist sie mit ihrem rechtsradikalen Background für einen grossen Teil der Franzosen wählbar geworden?
Marine Le Pen führt einen Wahlkampf wie Joe Biden 2020 – eine Nicht-Kampagne. Sie spricht kaum, ist wenig präsent, macht kaum kontroverse Vorschläge. Sie ist einfach da und sagt, sie werde die Kaufkraft erhöhen, Steuern senken und allen ein besseres Leben bieten. Kontroverse Themen hat sie über Bord geworfen, zumindest vordergründig.
Was heisst das konkret?
2017 war der «Frexit» ihr Thema, der Austritt aus der Europäischen Union. Jetzt spricht sie kaum über die EU oder über Migration. Ihr Wahlkampf fokussiert auf soziale und ökonomische Fragen. Das funktioniert, weil für die Franzosen das mit Abstand wichtigste Thema immer die Wirtschaft war. Migration, Islam und anderes sind Nischenthemen, mit denen man keine Wahlen gewinnt. Das ist das Problem von Éric Zemmour. Er spricht fast nur über Islam und Migration und kommt in den Umfragen auf zehn Prozent. Gleichzeitig ist er ein Faktor für Le Pens Erfolg.
Es heisst, er trage zu ihrer «Entdämonisierung» bei.
Zemmour ist dermassen extrem, dass sie neben ihm plötzlich moderat wirkt. Er könnte für sie aber auch zu einem Problem in der Stichwahl werden. Nach dem ersten Wahlgang wird sich Éric Zemmour wahrscheinlich für Le Pen aussprechen. Macrons Strategie wird sein, die beiden als gleichwertig darzustellen – und gegen Zemmour mobilisiert sich ein grosser Teil der Linken und der Mitte. Zemmour ist für Le Pen ein zweischneidiges Schwert, er nützt und schadet ihr.
Le Pen punktet mit der Kaufkraft. Warum ist die «Pouvoir d’achat» so wichtig?
Zwei Themen wechseln sich ab: Arbeitslosigkeit und Kaufkraft. Läuft es schlecht, spricht man über die Arbeitslosigkeit. Doch Macron war hier recht erfolgreich, sie sank in seiner Amtszeit von 9,5 auf 7,4 Prozent, für französische Verhältnisse kein schlechter Wert. Läuft es gut, spricht man über die Kaufkraft. Und derzeit kommt die Inflation hinzu. Sie ist in Frankreich weniger hoch als anderswo, namentlich weil der Staat die Gaspreise gedeckelt hat. Aber es sei daran erinnert, dass die geplante Erhöhung der Steuer auf Treibstoffe die Gelbwesten-Proteste auslöste.
Sie haben ein Buch über Emmanuel Macron geschrieben und bezeichnen ihn als «revolutionären» Präsidenten. Wie hat sich das geäussert?
Zum einen hat er die meisten Wahlversprechen von 2017 umgesetzt. Seine Vorgänger waren früh gescheitert, am Widerstand der Strasse oder weil ihre Partei ihnen im Parlament ein Bein stellte. Emmanuel Macron hat sein Programm innert zwei Jahren durchgezogen. Erst die Gelbwesten stoppten ihn abrupt. Möglich war Macrons Durchmarsch nur dank einer extremen Zentralisierung der Macht. Unter ihm wurde Frankreich noch zentralistischer und in gewisser Hinsicht undemokratischer. Denn im ersten Wahlgang hatte dieser übermächtige Präsident bloss 24 Prozent der Stimmen geholt, eine schwache demokratische Legitimation. Die Ablehnung durch die Gelbwesten war absehbar.
In welcher Art war er noch revolutionär?
Mit seiner Europa-Idee! Seine Hauptthemen 2017 waren Jobs, Chancengleichheit und Europa. Letzteres war revolutionär: Noch nie hatte ein Präsidentschaftskandidat Europa ins Zentrum gestellt. 2016 war der Brexit, und Trump wurde ins Weisse Haus gewählt. Es herrschte grosse Verunsicherung über Europas Zukunft und in Sachen liberale Demokratie. Le Pen forderte den Frexit, und so wurde der zweite Wahlgang 2017 zum Referendum über Frankreichs EU-Mitgliedschaft. Mit seinem Sieg hat Macron den Kulturkampf um Europa gewonnen. Heute fordert niemand mehr den Frexit oder spricht überhaupt über Europa. Le Pen, Zemmour und Mélenchon haben begriffen, dass man auf diese Weise keine Wahlen gewinnt.
Letzte Woche erschien eine Studie der Denkfabrik Fondapol, wonach vier Fünftel der Wähler kein Vertrauen mehr in die politischen Parteien haben. Was sagen Sie dazu?
Frankreich ist da doppeldeutig. Das Vertrauen ins politische System war schon immer tiefer als in Deutschland und der Schweiz. Als Macron jedoch im letzten Juni ein Quasi-Impfobligatorium verfügte, stellten sich die Franzosen brav in die Reihe: Das Land hat nun eine der höchsten Impfquoten in Europa. Impfgegner motzten, doch der Grossteil der Bevölkerung folgte dem Marschbefehl. Die Regierungen in der Bundesrepublik und der Schweiz geniessen zwar laut Umfragen mehr Vertrauen. Aber sie haben es nicht geschafft, das Vertrauenskapital zu nutzen, um die Bürgerinnen und Bürger vom Vorteil der Impfung zu überzeugen. Allerdings hat Macron mit der extremen Zentralisierung der Macht Frankreichs politisches System insgesamt labiler gemacht. Alles hängt davon ab, wer im Élysée sitzt. Unter Le Pen könnte Frankreich ganz schnell Ungarn oder Polen gleichen.
Gleichzeitig hat sich die politische Landschaft in Frankreich geradezu disruptiv verändert. Nicolas Sarkozy wurde nach einer Amtszeit abgewählt, François Hollande trat gar nicht zur Wiederwahl an. Welche Rolle spielt diese Entwicklung?
Alles ist im Fluss. Macron ist spätestens 2027 weg, dann darf er nicht mehr antreten. Niemand weiss, wie es dann weitergeht. Entwickelt sich in Frankreich ein Zweiparteien-System wie in den USA? Findet man den Weg zurück zur alten Konstellation mit vier Polen: Linksaussen, Mitte-links, Mitte-rechts, Rechtsaussen? Frankreichs politisches System war stets wandlungsfähig. Die einzige Partei mit einer etwas längeren Geschichte ist der Parti Socialiste.
Auf nationaler Ebene sind die Sozialisten praktisch bedeutungslos geworden.
Präsidentenwahlen sind keine Parteiwahlen, darum konnte Macron 2017 gewinnen. Auf regionaler und kommunaler Ebene bleiben die klassischen Parteien stark, auch der Parti Socialiste.
Jetzt können rechts und links von Macron vor allem die extremeren Kandidatinnen und Kandidaten punkten. Auf der einen Seiten Le Pen und Zemmour und auf der anderen Jean-Luc Mélenchon, der einzige Linke im zweistelligen Prozentbereich.
Macrons Partei La République en Marche hat je etwa die Hälfte des Mitte-links- und der Mitte-rechts-Wählerblocks aufgesogen. Dadurch gewinnen die Polparteien an Relevanz.
Was ist mit Valérie Pécresse von den Républicains? Von ihr spricht kaum noch jemand, obwohl sie als Frau und moderate Rechte scheinbar ein ideales Profil hat.
Allgemein geht man etwas hart mit ihr um. Ihr Wahlkampfauftakt verlief schlecht, die erste grosse Rede war eine Pleite. Ihr eigentliches Problem aber ist der fehlende Wählerpool. Sie müsste Mitte-rechts-Wähler von Macron zurückholen, aber er weiss sie an sich zu binden. Seit fünf Jahren steht er konstant bei 25 Prozent im ersten Wahlgang, egal ob Streiks, Gelbwesten, Pandemie oder Ukraine. Seine Werte sind extrem stabil. Das hat es Pécresse fast verunmöglicht, Mitte-rechts-Wähler für sich einzunehmen.
Deshalb hat sie es am rechten Rand versucht.
Ja, aber bei solchen Wählern ist sie unglaubwürdig. Sie trat 2019 unter Protest aus der Partei Les Républicains aus, weil diese zu weit nach rechts gedriftet sei. Jetzt versucht sie selber, diese rechten Stimmen abzuholen. Dafür ist sie die falsche Person.
Valérie Pécresse wird nicht einmal von Ex-Präsident Nicolas Sarkozy unterstützt, obwohl sie Ministerin in seinem Kabinett war.
Sarkozy sagt gar nichts. Er wird am 11. April, einen Tag nach dem ersten Wahlgang, seine Ansprache halten und die Nation bitten, nicht Le Pen zu unterstützen, sondern Macron.
Von aussen betrachtet wirkt die französische Politik ziemlich diffus, um nicht zu sagen konfus. Wie sehen Sie das?
Die traditionellen Parteien, die Macron 2017 überrollte, konnten sich bislang von dem Schock nicht erholen. Deshalb kommt es mit Macron-Le Pen wohl zur selben Paarung wie damals. Die grosse Frage wird demnächst schon sein, wie es in fünf Jahren aussehen wird. Ich kann darüber nur spekulieren, aber ich habe die Befürchtung, dass es in der Mitte viele Ehrgeizlinge geben wird, die Macron beerben wollen. Dann hätte die Mitte das gleiche Problem wie die Linke heute. Die Kandidaten graben einander das Wasser ab und schwächen das Lager insgesamt.
Was bringt Sie zu dieser Einschätzung?
Macron hat 2017 gezeigt, dass man ganz allein mit einer tollen Webseite und ein paar starken Reden eine Wahl gewinnen kann. Deshalb glauben heute viele Politiker, sie könnten das auch schaffen, Éric Zemmour ganz rechts und zahllose Linke. Das zersplittert das System und schwächt die Parteien. Langfristig sind das die Opportunitätskosten von Macrons Wahlerfolgs, die mir am meisten Sorgen bereiten: Jetzt überwiegen die Vorteile seines grossen Erfolgs, aber eines Tages wird man die Nachteile sehen.
Gerade die deutsch- französische Freundschaft war der jahrzehntelange Garant für Frieden in Europa, als aus "Erbfeinden" Freunde wurden.
MLP stellt diese Freundschaft in Frage und möchte den französischen Nationalismus befeuern. Vergleiche mit Orban oder Kaczynski passen da sehr gut...
Mich besorgt diese Wahl in Frankreich, denn sie stellt die Weichen für unsere gemeinsame Zukunft. Ein geschwächtes "Europa der Vaterländer" würde zwischen den Supermachten aufgerieben und zunehmend machtlos...
Dazu passt, was ich im TV mal einen französischen Politologen sagen hörte: „Die Franzosen lieben das Neue, aber sie hassen die Veränderung.“