Nach Gaza nun der Libanon. Nach der Hamas die Hisbollah. Israel greift seit Montag Stellungen im Süden und Osten des Zedernstaates an. Zwar waren Mitglieder der schiitischen islamistischen Bewegung das Ziel, doch verloren auch über 100 Zivilisten ihr Leben.
Der Libanon ist in Aufruhr. Raketen haben sogar die Hauptstadt Beirut erreicht. Das Gespenst der israelischen Intervention während des libanesischen Bürgerkriegs zwischen 1978 und 1982 ist noch präsent in den Köpfen der Menschen. Im Gegensatz zu Gaza ist der Libanon jedoch ein von der internationalen Gemeinschaft voll anerkannter Staat, der über eine reguläre Armee verfügt. Warum schlägt sie nicht zurück?
Souhail Belhadj Klaz, Professor am Graduate Institute in Genf und Spezialist für die Politik des Nahen Ostens und Nordafrikas, gibt im Interview Auskunft.
Warum reagiert der Libanon nicht auf die Angriffe Israels?
Souhail Belhadj Klaz: Das ist nichts Neues. Seit 50 oder 60 Jahren ist das Land ein Kriegsschauplatz für regionale Konflikte, auf dem man sich indirekt bekämpft. Es ist eine Art Ring, insbesondere für Israel und Syrien, zwei Länder, die während des libanesischen Bürgerkriegs interveniert haben.
Wird die libanesische Armee nicht wenigstens ein paar tausend Soldaten an die Grenze zu Israel schicken?
Ich rechne nicht damit. Die Regierung wird sich nicht bewegen. Die libanesische Armee hat nicht die Mittel, um so zu reagieren, wie es im letzten Krieg mit Israel 2006 der Fall war.
Die Regierung wird keine Männer für ein Gebiet opfern, das nicht vom Staat verwaltet wird oder unter seiner militärischen Kontrolle steht. Die Hisbollah müsste erst die Präsenz der libanesischen Armee auf «ihrem» Territorium akzeptieren ...
Der libanesische Staat müsste um Erlaubnis fragen?
Es ist eher eine praktische als eine politische Frage. Der bewaffnete Arm der Hisbollah besteht nicht nur aus Milizionären, sondern verfügt auch über einen Geheimdienst und paramilitärische Einrichtungen und Infrastrukturen, die ausschliesslich von der Hisbollah genutzt werden und von denen die libanesische Armee keine Kenntnis haben darf. Es gibt sogar Minenfelder. Die Hisbollah hat kein Interesse daran, dass die libanesische Armee in ihrem Gebiet eingesetzt wird, und wenn dies geschehen würde, müsste es operativ koordiniert werden.
Wäre es für die Hisbollah nicht besser, wenn die libanesische Armee ihr gegen Israel zur Hand gehen würde?
Es ist nicht bekannt, wie effektiv die reguläre Armee militärisch ist, da sie seit Jahren nicht mehr gekämpft hat. Die heutigen Soldaten sind junge Männer, die noch nie Kämpfe gesehen haben.
Ausserdem hat die Bewegung ihre eigenen Ziele. Sie will an der Spitze des arabischen Widerstands gegen Israel und für die Rechte der Palästinenser wie auch der Libanesen stehen.
Die grössten Religionsgruppen im Libanon sind maronitische Christen, sunnitische Muslime und Schiiten. Ist die Armee an eine Konfessionsgruppe gebunden?
Die Armee wird nicht offiziell von einer dieser Gruppen geführt. Traditionell sind es jedoch hochrangige maronitische Offiziere, die die Armee ausmachen. Mehrere maronitische Präsidenten des Landes, wie Michel Sleiman oder Michel Aoun, waren früher Oberbefehlshaber der libanesischen Armee. Bis in die 1990er Jahre waren die Christen demografisch in der Mehrheit. Inzwischen sind es die Schiiten, und das Kräfteverhältnis innerhalb der Armee ist nicht mehr so eindeutig.
Dennoch muss der Staat seiner Pflicht nachkommen: Wenn die Bevölkerung in Gefahr ist, muss er reagieren.
Die Souveränität des Libanon ist umstritten. De jure ist er ein anerkannter souveräner Staat, aber nicht de facto. Man kann von einem gescheiterten Staat sprechen. Mein Kollege Peter Harling spricht von einem Reststaat. Sagen wir, der Libanon ist ein souveräner Staat unter Einfluss. Nach dem Abkommen von Taif von 1989, das den Bürgerkrieg beendete, stand das Land formal unter syrischem Protektorat. Das dauerte bis etwa 2005. Es steht auch unter innerstaatlichem Einfluss.
Der politische Arm der Hisbollah ist für die Erbringung von Dienstleistungen in den Bereichen Justiz, Strassenbau, Bildung und Elektrizität zuständig. Die Hisbollah hat sich auf soziale Dienste und das Gesundheitswesen spezialisiert. Das ist zwar Klientelismus, aber in Wirklichkeit tragen diese Dienstleistungen für die Bevölkerung zur Legitimität der Hisbollah bei.
Besteht die Gefahr, dass das Land auseinanderbricht, wenn die Regierung nicht reagiert?
Die Menschen im Süden des Landes erhielten nach dem Krieg von 2006 keinen Cent vom libanesischen Staat. Es war die Hisbollah, die die Infrastruktur und die Spitäler wieder aufbaute und sogar die vom Krieg betroffenen Familien entschädigte. Der fehlende Einfluss des libanesischen Staates in der Region ist also nicht erst seit gestern bekannt. Die vom Krieg betroffenen Schiiten und Drusen waren in Massen nach Damaskus geflohen. Ich war damals in der syrischen Hauptstadt und sah diese wichtige Solidarität, mit syrischen Familien, die in Massen libanesische Flüchtlinge aus dem Süden aufnahmen.
Wird sich die Bevölkerung gegen die Hisbollah wenden?
Das glaube ich nicht. Schliesslich sind es libanesische Bürger, die durch israelische Bomben sterben.
Die Libanesen tragen Israel nicht in ihrem Herzen. Das Massaker von Sabra und Schatila im Jahr 1982 ist immer noch im kollektiven Gedächtnis. Damals liessen israelische Soldaten die christliche Phalange-Miliz in ein Flüchtlingslager eindringen, wo sie ein Massaker unter Palästinensern begingen.
Wegen seiner wirtschaftlichen Stabilität und politischen Neutralität (1949–1969) wurde der stark westlich und weitgehend französisch geprägte Libanon in den 1950er und 1960er Jahren auch als „Schweiz des Orients“ bezeichnet. Die Hauptstadt, Beirut, galt bis 1984 als „Paris des Nahen Ostens“.
Sie haben keine brauchbare Luftverteidigung und kaum Munition. Was genau sollen sie machen bei diesem Überfall Israels auf ihr Staatsgebiet?