Herr Dündar, in der Türkei gehen dieser Tage Hunderttausende auf die Strasse, das Ende des Regimes scheint möglich zu sein. Wie ist es, das Geschehen aus der Ferne beobachten zu müssen?
Can Dündar: Es ist schmerzhaft, denn man ist mit dem Herzen dabei. Mal bin ich gespannt, dann wieder habe ich Angst. Der Ausgang ist völlig offen: Wenn das Regime zurückschlägt, könnte es noch schlimmer werden, aber die Proteste könnten dem Land auch mehr Demokratie bringen.
Präsident Erdogan hat schon einiges überstanden. 2023 waren Sie optimistisch, dass er die Wahl verlieren könnte, am Ende gewann er.
Die Hoffnung täuscht manchmal, vor allem, wenn man im Ausland lebt, sein Land aus der Ferne betrachtet und unbedingt dorthin zurückkehren will. Aber das Wahlergebnis war relativ knapp, was angesichts der Bedingungen ein Erfolg war.
Kann Erdogan überhaupt noch durch freie und faire Wahlen von der Macht verdrängt werden?
Es war wohl naiv, zu glauben, ein Wechsel könne durch Wahlen erreicht werden. Wahrscheinlich braucht es einen Aufstand. Wenn ein Autokrat die Justiz, die Medien, die Bürokratie, die Universitäten, die Polizei, die Armee, das Parlament, den Geheimdienst und sogar die Mafia kontrolliert, ist es sehr schwierig, ihn loszuwerden. Auch das Wahlsystem steht unter der Kontrolle der Regierung, sodass die Ergebnisse manipuliert werden können.
Könnte Erdogan derzeit noch freie Wahlen gewinnen?
Er würde die Ergebnisse wohl manipulieren oder die Wahlen absagen. Bis zu den nächsten Wahlen sind es ohnehin noch drei Jahre, und ich sehe keinen Grund, warum er vorgezogene Wahlen abhalten sollte. Aber angesichts der Proteste, der schlechten wirtschaftlichen Lage und vielleicht auch ausländischen Drucks könnte sich das ändern.
Ekrem Imamoglu, der Anführer der Opposition und abgesetzte Istanbuler Bürgermeister, der sich nun in Haft befindet, spricht ein breites Wählerspektrum an – Stadt und Land, Religiöse und Säkulare, Arme und Reiche. Ist er ein starker Kandidat oder versammeln sich die Leute vor allem hinter ihm, um Erdogan loszuwerden?
In der Türkei kursiert ein Witz, wonach die Leute selbst eine Coca-Cola-Flasche wählen würden, wenn sie gegen Erdogan anträte. Aber Imamoglu hat schon seine Stärken: Er stammt aus der Schwarzmeerregion, aus einer konservativen Familie, ist aber ein Sozialdemokrat. Er betet freitags in der Moschee, trinkt aber Wein. So spricht er unterschiedliche Milieus an.
Ist er so etwas wie die Quintessenz des Türken? Auch das Land nimmt ja eine Zwischenstellung zwischen islamischer und westlicher Welt ein.
Das kann man so sagen. Und damit könnte er die Polarisierung der Gesellschaft überwinden. Es mag paradox klingen, doch dass er sich in Haft befindet, verschafft ihm einen weiteren Vorteil, denn viele halten seine Verhaftung für unfair. Auch Erdogan hat einst davon profitiert, dass er ins Gefängnis geworfen wurde.
Was unterscheidet Imamoglu von Kemal Kilicdaroglu, dem Kandidaten, der 2023 gegen Erdogan unterlag?
Kilicdaroglu kam aus dem Staatsapparat, er wurde in Ankara gross. Imamoglu kommt aus der Wirtschaft und reüssierte in Istanbul. Beide Städte unterscheiden sich wie Washington und New York: Auf der einen Seite das Zentrum der Politik und der Bürokratie, auf der anderen das wirtschaftliche und kulturelle Herz des Landes. Kilicdaroglu näherte sich den rechten Oppositionsparteien an. Er dachte, seine sozialdemokratische CHP könne nicht allein gewinnen. Unter Imamoglu tritt die CHP allein an, aber andere Kräfte folgen ihr.
Ist es vor allem die wirtschaftliche Lage, die Erdogan so unpopulär macht, oder spielen auch Themen wie Bürgerrechte, Demokratie oder das Verhältnis von Staat und Religion eine Rolle?
Erdogans Stammwählern geht es vor allem um die Wirtschaft, seinen eingefleischten Gegnern auch um Freiheit, Lebensstile und die Rolle der Religion. Von Erdogans Anhängern hatte ich eine heftige Reaktion auf die jüngsten Proteste erwartet, aber sie schweigen. Auch sie sind von der Wirtschaftskrise betroffen und denken über Alternativen nach. Es ist also ein entscheidender Moment.
Derzeit sitzt Imamoglu im Gefängnis von Silivri ein, wo auch Sie inhaftiert waren. Wie ist es dort?
Imamoglus Haftbedingungen sind sicher besser als diejenigen Alexej Nawalnys. Die Türkei ist noch nicht Russland; die Regierung will Imamoglu nicht zum Märtyrer machen. Er kann Anwälte und andere Besucher empfangen und Familienmitglieder treffen. Er kann auch Videos und Tweets mit seinen Botschaften versenden. Ich denke, er erreicht nun mehr Menschen als je zuvor.
Hier in Deutschland unterstützte lange Zeit eine grosse Mehrheit der Türken Erdogan. Ist das noch immer so?
Letztes Wochenende war ich auf einer Kundgebung in Berlin, an der etwa 1500 Leute teilnahmen. Normalerweise hätte ich eine Gegenkundgebung regierungsnaher Türken erwartet, aber es gab keine. Viele von ihnen wissen, was in ihrem Land vor sich geht. Wenn sie in die Türkei reisen, sehen sie die Krise. Erdogans Anhänger sind sehr viel stiller geworden. Hinzu kommt, dass viele Regimegegner mittlerweile hier in Berlin sind. Das sind junge, gut ausgebildete Leute, die auf den Tag warten, an dem sie zurückkehren können.
Sind die Deutschen solidarisch mit der türkischen Protestbewegung?
Das Interesse der Öffentlichkeit und der Medien ist gross, aber ich befürchte, die Politik will es sich nicht mit Erdogan verderben. Die europäischen Regierungen haben auch Angst davor, dass die Türkei im Fall eines Machtwechsels das Flüchtlingsabkommen kündigen könnte, sodass Millionen Syrer nach Europa strömen könnten. Es ist traurig, dass die Europäer ihre Interessen über ihre Werte stellen. Aber das ist Realpolitik.
Welche Rolle spielen die Kurden in der derzeitigen Situation? Manches deutet darauf hin, dass Erdogan sie für sich gewinnen will.
Im Moment gibt es so etwas wie Friedensverhandlungen zwischen den Kurden und der türkischen Regierung. Diese stocken aber seit einigen Wochen. Die Kurden sind für Erdogan der Schlüssel, um die Verfassung zu seinen Gunsten zu ändern, denn sie stellen 10 bis 12 Prozent der Wähler und könnten das Zünglein an der Waage sein. Sie könnten sich aber auch dem Aufstand der demokratischen Kräfte anschliessen. Auch Imamoglu umwirbt sie; er hat kurdische Städte besucht und scheint dort sehr beliebt zu sein. Im Moment zögern die Kurden aber noch, um den Friedensprozess nicht zu gefährden.
Eine Vorhersage darüber, wann Sie in die Türkei zurückkehren können, werden Sie wahrscheinlich nicht wagen wollen.
Nein. Wenn ich das derzeitige Szenario zusammenfassen sollte, würde ich sagen, wir befinden uns am Ende der ersten Halbzeit und es steht eins zu eins. Der wichtigste Kandidat sitzt im Gefängnis, aber die Opposition kontrolliert weiterhin die Istanbuler Stadtverwaltung. Erdogans Plan, dies zu ändern, konnte vereitelt werden. In den nächsten Tagen werden wir sehen, wie es weitergeht. (aargauerzeitung.ch)
Es war wohl naiv, zu glauben, ein Wechsel könne durch Wahlen erreicht werden. Wahrscheinlich braucht es einen Aufstand. Wenn ein Autokrat die Justiz, die Medien, die Bürokratie, die Universitäten, die Polizei, die Armee, das Parlament, den Geheimdienst und sogar die Mafia kontrolliert, ist es sehr schwierig, ihn loszuwerden. Auch das Wahlsystem steht unter der Kontrolle der Regierung, sodass die Ergebnisse manipuliert werden können.„
Dito 🍊, dito Putler, dito Orban, dito …
Und dass die Kurden ihm zu einer weiteren Amtszeit verhelfen könnten, spricht ja auch nicht für sie. Wir sehen ja was sein oranger Kollege täglich rauslässt.