Suzi LeVine war unter Präsident Barack Obama Botschafterin der USA für die Schweiz. Heute lebt die Demokratin wieder in den USA. Im Gespräch mit CH Media sagt sie, welchen Fehler Kamala Harris nicht machen darf, erzählt von ihrer Arbeit mit Doug Emhoff, dem Ehemann der Vizepräsidentin, – und sagt, was sie an der Schweiz am meisten vermisst.
Bei den Demokraten ist seit Joe Bidens Rückzug regelrecht Euphorie ausgebrochen. Wieso?
Suzi LeVine: Ich denke, die Leute haben angesichts der Bedrohung durch Donald Trump ein aufgestautes Gefühl der Dringlichkeit. Als Joe Biden den Stab weitergab, war das ein unglaublich patriotischer Akt, und auch ein aussergewöhnlicher. Wie als Bilbo in «Der Herr der Ringe» den «Einen Ring» aufgab. Mit dem Schritt betonte Biden aber auch, dass es Zeit ist, in die Zukunft zu schauen. Als Harris in den darauffolgenden Tagen ihre unglaublichen Wahlkampffähigkeiten demonstrierte, setzte sich die ganze aufgestaute Energie zu ihren Gunsten frei. Die Wahl im November ist jetzt eine zwischen zwei Visionen für unser Land. Trump repräsentiert die Vergangenheit – eine sehr unterdrückende Vergangenheit. Kamala hingegen ist auf die Zukunft fokussiert. So konnte ihre Kampagne nicht nur Demokraten, sondern auch unentschlossene Wähler mobilisieren. Viele Menschen erlebten bisher eine Art Trump-Amnesie. Sie vergassen, wie viel Chaos der Ex-Präsident mit sich gebracht hatte. Nun haben sie diesen Schleier von ihren Augen genommen und können Trump sehen, wie er wirklich ist.
In der Vergangenheit wurde Kamala Harris als schwache Vizepräsidentin kritisiert. Wie echt ist die Euphorie um sie?
Nun, das haben verschiedene Mitglieder der Presse über sie gesagt. Tatsächlich war sie aber eine tolle Vizepräsidentin. In den ersten zwei Jahren hatten wir im Senat eine 50/50-Pattsituation. Ihre Aufgabe war es, diese Pattsituationen zu durchbrechen. Diesen Job machte sie so gut, dass sie den fast 200 Jahre alten Rekord für die meisten aufgelösten Pattsituationen brach.
Trotzdem war sie jahrelang aus der Öffentlichkeit verschwunden. Wie erklären Sie sich den plötzlichen Meinungsumschwung?
Wenn man auf Vizepräsidenten zurückblickt, sagen die Leute das nicht über Dan Quayle. Sie sagen das nicht über Al Gore. Dass sie es bei Harris im Besonderen sagen, hat meiner Meinung nach auch mit Geschlechterstereotypen und rassistischen Stereotypen zu tun. Ausserdem ist es auch eine attraktivere Geschichte, zu sagen: Wo war sie? Und jetzt ist sie hier, anstatt zu sagen: Sie hat ihren sehr spezifischen Job gemacht und jetzt hat sich ihr Job verändert. Sie ist jetzt Kandidatin – und eine hervorragende.
Die demokratische Kongressabgeordnete Alexandria Ocasio Cortez sagte kurz vor Bidens Rücktritt, dass längst nicht alle Demokraten hinter Harris stehen. Wie viel Rückhalt hat sie innerhalb der Partei?
Die gesamte Demokratische Partei zu mobilisieren und zu vereinen, ist unglaublich schwer, glauben Sie mir. Sie schafft es aber, weil sie eine aussergewöhnliche Person und Anführerin ist. Die Leute erkennen, dass Kamala die richtige Person zur richtigen Zeit gegen den richtigen Gegner ist. Als Staatsanwältin ist sie viel eher in der Lage, den Fall gegen den verurteilten Verbrecher Trump zu verfolgen. Und sie kann auch den Kontrast zu jemandem wie J. D. Vance hervorheben.
Als Hillary Clinton gegen Donald Trump antrat, gab es auch eine gewisse Sicherheit, dass sie die Wahl gewinnen wird. Dann verlor sie. Was muss Kamala Harris anders machen als Hillary Clinton?
Ich gebe Ihnen ein sehr konkretes Beispiel. 2016 war die Kandidatin der Grünen Partei Jill Stein. Sie erzielte 5 Prozent der Stimmen. Im Jahr 2020, mit Joe Biden, erhielten Drittparteien nur noch 1,5 Prozent der Stimmen. Bis vor kurzem lag Robert Kennedy Junior (RFK Jr.) allein im zweistelligen Bereich in den Umfragen. 2016 schenkten die Demokraten den Kandidaten der dritten Parteien nicht viel Aufmerksamkeit. Wir dachten nicht, dass sie viel von unseren Kandidaten abziehen würden. Dieses Jahr haben wir ein Team, das daran arbeitet, das Bewusstsein in Bezug auf Dritt-Partei-Kandidaten zu schärfen. Es ist wichtig, den unentschlossenen Wählerinnen und Wählern zu zeigen, dass sie mit einer Stimme für Dritt-Partei-Kandidaten nicht Cornell West, Jill Stein oder RFK Jr. wählen, sondern Donald Trump. Dasselbe gilt für diejenigen, die gar nicht wählen. Wir haben seit 2016 dazugelernt. Man kann nicht davon ausgehen, dass dieser Typ niemals gewinnen könnte. Umfragen wählen nicht. Menschen tun es. Bei der Präsidentschaftswahl wird es wohl auf weniger als 50'000 Stimmen ankommen. Ich hatte das Vergnügen, Taylor Swift im Letzigrund zu sehen, als sie in Zürich war. Also werden etwa gleich viele Leute wie die, die das Konzert besucht haben, die Wahl im November entscheiden. Gerade die Stimmen von Amerikanerinnen und Amerikanern im Ausland sind deshalb besonders wichtig.
Kamala Harris gilt als linkste Kandidatin seit einem halben Jahrhundert. In Amerika werden Wahlen aber in der Mitte gewonnen. Bei aller Euphorie – ist ihr Sieg realistisch?
Sie wird im November gewinnen. Ich weiss, dass es eine Tendenz gibt, zu sagen, dass Dinge links oder rechts sind. Letztlich will sich Harris wirklich auf die Zukunft fokussieren. Das beinhaltet nicht nur Politik, die sich auf die obersten 2 Prozent der Gesellschaft konzentriert. Zusätzlich ist das Recht einer Frau auf Selbstbestimmung derzeit das wichtigste politische Thema. Und ich weiss, für Schweizer ist das verrückt, weil sie das Recht geschützt haben. Aber in den Vereinigten Staaten haben wir keinen nationalen Schutz für die reproduktiven Rechte von Frauen. Harris ist seit Jahren eine Verfechterin davon. Das andere sind Wahlrechte und unsere Demokratie und unser Rechtsstaat. Wir haben kontinuierliche Bedrohungen dagegen gesehen. Es gibt eine Reihe von Initiativen, die sie umsetzen würde, sollte sie Präsidentin werden. An einigen arbeitet sie schon jetzt mit Joe Biden. Es gibt viel zu tun. Aber wie die Schweizer sehr gut wissen, wurde der Gotthard-Tunnel nicht in zwei oder drei Jahren gebaut. Solche Vorhaben brauchen Zeit und Investition und Durchhaltevermögen, um wirklich gute Ergebnisse zu bringen und sicherzustellen, dass sie verankert sind. Dafür setzt sich Harris ein. Wenn das progressiv ist, grossartig!
In den letzten Wochen haben sich die Attacken von Republikanern auf Kamala Harris verstärkt. Vermehrt konzentrieren sie sich auf ihr Geschlecht und ihre Hautfarbe. Wie schmutzig wird der Wahlkampf noch?
Ich kann nicht für die Republikaner sprechen und ich werde sicherlich nicht für Donald Trump sprechen. Aber ich denke, was Sie sehen, ist der Grund, warum die Leute Joe Biden im Jahr 2020 gewählt haben: Kompetenz statt Chaos. Was wir jetzt sehen – in Interviews oder über Donald Trumps Social-Media-Plattform Truth Social – ist, dass eine Trump-Regierung wie Trump wäre: chaotisch und nicht zum Vorteil aller, sondern nur einer bestimmten Gruppe von Individuen, die ziemlich sicher so aussehen wie er. Na ja, nicht ganz so orange wie er. Das ist auch in seinem Handbuch «Project 2025» zu sehen, von dem er sich fälschlicherweise distanziert.
Von der sanfteren Rhetorik, die die Republikaner nach dem Attentat auf Donald Trump an den Tag gelegt haben, ist heute nicht mehr viel übrig. Wieso?
Trump hat eine grosse Basis, das heisst, er wird wahrscheinlich mindestens 42 Prozent der Stimmen bekommen. Aber er hat auch eine niedrige Decke, maximal 49 Prozent der Wähler. Das wird er nicht überschreiten. Er spricht die Mehrheit der Amerikaner nicht an. Also konzentriert er sich auf die Beziehung zu seiner Basis. Die Tatsache, dass jemand nach einer Verurteilung in 34 Anklagepunkten wegen schwerer Verbrechen keinen Einbruch in seiner Popularität bei seiner Basis erlebt hat, sagt viel über seine Fähigkeit aus, sie festzuhalten. Ausserdem hat er ein Medienumfeld aufgebaut, in dem die Menschen sein Echo sind.
In der kommenden Woche will Kamala Harris bekannt geben, mit welchem Vize-Kandidaten sie in den Wahlkampf ziehen will. Wer wäre am besten geeignet?
Es ist, als würde man zum besten Buffet aller Zeiten gehen. Ich habe keinen Favoriten. Mein Favorit ist, wer auch immer ausgewählt wird. Die Auswahlmöglichkeiten sind herausragend.
War es richtig, Harris einfach so binnen weniger Tage ohne parteiinternen Wettbewerb aufzustellen? Könnte das noch zum Eigentor werden?
Seit der Ankündigung von Joe Biden hat sie sehr gute Arbeit geleistet. Sie versammelte alle, die ebenfalls die Nominierung anstreben könnten, sowie wichtige Organisationen hinter sich. Zusätzlich gewann sie über die sozialen Medien eine Menge Unterstützung. Die Delegierten sind natürlich frei, die Person zu wählen, die sie wollen. Aber Harris hat gezeigt, dass sie die beste Kandidatin und die beste Person ist, um diese Präsidentschaft zu gewinnen und Donald Trump zu schlagen. Die Umfragen haben gezeigt, dass sie sofort die Lücken zu Trump in allen umstrittenen Bundesstaaten geschlossen hat. Es gibt noch ein wenig Raum nach oben in Pennsylvania. Zwischen dem 1. und 5. August werden die Delegierten ihre Stimmen abgegeben, und dann wird sie die Kandidatin, was sehr aufregend ist.
Sie haben Kamala Harris schon persönlich getroffen. Wie ist sie?
Ich habe sie ein paar Mal getroffen, und ich habe viel Zeit mit ihrem Ehemann, Doug Emhoff, verbracht, als er die Strategie der Vereinigten Staaten im Kampf gegen Antisemitismus vorstellte. Kamala und Doug sind beide so warmherzig, intelligent und engagiert. Sie sind wunderbare Zuhörer. Ich habe auch während der Feiertage Zeit mit ihnen verbracht. Ich weiss, es gibt viele Memes über ihr Lachen. Ich kann dazu nur sagen, dass es sehr echt ist und von Herzen kommt. Wie auch Präsident Joe und Dr. Jill Biden sind die beiden unglaublich offen und engagiert. Ich freue mich auf dieses neue Kapitel mit Kamala und Doug. Und darauf, eine neue Generation ins Weisse Haus zu bringen.
Sie sind seit rund sieben Jahren wieder zurück in den USA. Vermissen Sie die Schweiz?
Oh Gott, es gibt so viel, das ich vermisse. Ich bin seit dem 20. Januar 2017 zurück. Seither war ich schon einige Male wieder in der Schweiz. Wenn ich in die Vereinigten Staaten zurückkehre, nehme ich immer Mayonnaise und Schoggitafeln mit. Das liebe ich. Ich vermisse auch den öffentlichen Verkehr, dass man mit dem Zug oder dem Tram eigentlich überall hinfahren kann. Und natürlich die Qualität des Brotes. Etwas, das ich immer mache, wenn ich in der Schweiz bin, selbst wenn es ein bisschen kalt ist: Ich schwimme in der Aare. Oft sind wir auf die Brücke in der Nähe des Tierparks gestiegen und von dort aus in den Fluss gesprungen. Am meisten hänge ich aber noch am Schweizer Modell der Lehre. Wir arbeiten hart daran, das hier in den USA aufzubauen. Hoffentlich können wir es unter einer Harris-Regierung auch bei uns einführen.
Ich finde das unglaublich. Erinnert an Obama.
Das nennt sich Angst vor Machtverlust!
Zu erkennen bei Menschen und Organisationen, die sehr stark von der Vergangenheit zehren und die Aktualität zu gewissen Teilen ablehnen und gar nicht akzeptieren.
Zum Beispiel Kirchen und konservative Parteien.
Eine Frau, dann noch farbig... Die konnte man jahrhundertelang mit Lügengeschichten vom Hof jagen oder gleich auf dem Hof verbrennen.
Heute geht das zum Glück nicht mehr.