Die US-Politik folgt seit Jahrzehnten einer klaren Choreografie. In einem Zyklus von Vorwahlen in sämtlichen Bundesstaaten und Territorien bestimmen Demokraten und Republikaner, wer im November zur Präsidentschaftswahl antritt. Dieses Jahr ist alles anders: Weniger als 100 Tage vor der Wahl beginnt das Rennen von vorn.
Während sich die Republikaner ihrem «Heiland» Donald Trump unterwarfen, haben die Demokraten kurz vor Meldeschluss ihr Zugpferd gewechselt. Am Freitag wurde Vizepräsidentin Kamala Harris von einer Mehrheit der rund 4600 Delegierten als Kandidatin offiziell nominiert. Es war reine Formsache, ernsthafte Konkurrenz gab es nicht.
Man reibt sich immer noch die Augen. Kamala Harris? In den zunehmend hektischen Spekulationen, wer den in mancher Hinsicht angeschlagenen Präsidenten Joe Biden ersetzen könnte, spielte sie bestenfalls eine Nebenrolle. Zu unbeliebt sei die Kalifornierin, zu wenig charismatisch. In ihrem undankbaren Amt habe sie sich kaum profilieren können.
Noch als Biden am vorletzten Sonntag den herbeigesehnten Verzicht bekannt gab, bezweifelten manche Beobachter, dass die 59-Jährige es schaffen werde. Dabei hatte sich die «blaue Welle» für Kamala Harris rasch aufgebaut. Sie überrollte selbst führende Demokraten wie Nancy Pelosi oder Barack Obama, die ein offenes Rennen bevorzugten.
Wie konnte ein vermeintlicher Risikofaktor zur neuen Lichtgestalt der Partei werden?
Der Hauptgrund ist der Amtsinhaber. Nach seinem Absturz in der CNN-Debatte mit Donald Trump wehrte sich Biden mehr als drei Wochen lang verbissen gegen die zunehmend eindringlichen Forderungen, auf seine Kandidatur zu verzichten. Obwohl es offensichtlich war, dass er einen harten Wahlkampf gegen Trump kaum durchstehen konnte.
Biden blieb stur, auch nachdem sein Kontrahent durch das Attentat in Pennsylvania einen zusätzlichen Schub erhalten hatte. Erst seine Corona-Infektion und die Erkenntnis, dass er gegen Trump im November kaum eine Chance haben werde, brachten den 81-Jährigen zur Besinnung. Er erklärte seinen Rückzug und sprach sich gleichzeitig für Kamala Harris als Nachfolgerin aus.
Statement from President Clinton and Secretary Clinton pic.twitter.com/R7tYMFWbsu
— Bill Clinton (@BillClinton) July 21, 2024
Damit gab Joe Biden die Richtung vor, doch das allein hätte kaum genügt. Eine wichtige Rolle spielte die gemeinsame Erklärung von Bill und Hillary Clinton, mit der sie nicht nur Bidens Leistungen würdigten, sondern auch die Kandidatur von Kamala Harris unterstützten. Den Einfluss der Clintons in der Demokratischen Partei darf man keinesfalls unterschätzen.
Ein mindestens so bedeutendes Signal kam von Gavin Newsom. Kaum jemand hatte in den letzten Monaten seine präsidialen Ambitionen so klar zur Schau gestellt wie der Gouverneur von Kalifornien. Nun aber verzichtete er zugunsten seiner guten Freundin aus gemeinsamen Tagen in San Francisco, als Newsom Stadtpräsident und Harris Bezirksstaatsanwältin war.
In den folgenden Stunden reihte sich ein «Schwergewicht» nach dem anderen hinter der Vizepräsidentin ein. Sie selbst verhielt sich klug und betonte, sie wolle sich die Nomination «verdienen». Als am Montagmorgen in europäischen Medien noch über ein offenes Rennen spekuliert wurde, stand Kamala Harris faktisch als Präsidentschaftskandidatin fest.
Selbst Barack Obama gab schliesslich seine Bedenken auf. Denn längst war um Harris eine Euphorie entstanden, die an seine eigene Kandidatur 2008 erinnerte. Auf einmal war sie keine Hypothek mehr, sondern als Frau mit jamaikanisch-indischer Herkunft eine ideale Gegnerin für den 78-jährigen Donald Trump. Der wusste nicht, wie ihm geschah.
Offensichtlich hatten weder er noch die Republikaner damit gerechnet, dass die Demokraten sich von Biden lösen könnten. Nun schlägt er in gewohnter Manier wild um sich und schreckt vor rassistischen Anspielungen nicht zurück. Dabei hatte gerade Harris’ indische Mutter stets Wert darauf gelegt, dass ihre Töchter sich ihrer «schwarzen Identität» bewusst waren.
Kamala Harris reagierte souverän auf Trumps Beschimpfungen. In den knapp zwei Wochen seit Bidens Rückzug hat sie praktisch alles richtig gemacht. Vergessen scheint die glücklose Kampagne von 2019, als sie schon vor der ersten Vorwahl in Iowa mangels Geld und Perspektiven das Handtuch werfen musste. Das schlägt sich in den Umfragen nieder.
Der Harris-Effekt sei «dramatisch», konstatiert etwa der «Economist». Zwar liegt sie in den meisten nationalen Umfragen und Swing States hinter Trump, doch der Rückstand befindet sich im statistischen Unschärfebereich. Und der Enthusiasmus bei der Basis der Demokraten und ihre Motivation zur Teilnahme an der Wahl haben erheblich zugenommen.
Bei Jungen, Schwarzen und Latinos, drei besonders wichtigen Wählergruppen, schneidet Kamala Harris sehr viel besser ab als Joe Biden. Es scheint, als wäre mit dessen Rückzug eine tonnenschwere Last von den Schultern vieler demokratischen Wählerinnen und Wähler abgefallen. Das zeigt auch die Begeisterung bei Harris' ersten Wahlkampfauftritten.
Die Vizepräsidentin habe «einer lustlosen Partei einen Elektroschock verpasst», schrieb die «New York Times». Dank der kurzen Zeitspanne könne die Euphoriewelle bis zur Wahl anhalten – oder zusammenbrechen. Eine Prognose will niemand wagen. Zu ungewohnt ist das Szenario mit einer neuen Kandidatur nur drei Monate vor dem Wahltermin.
Die Kandidatin wird vielleicht schon am Wochenende bekannt geben, wer mit ihr auf dem Ticket für die Vizepräsidentschaft kandidieren wird. Ihr Wahlkampfteam hat laut NBC News mit sechs potenziellen Kandidaten ernsthafte Gespräche geführt. Schon ab nächstem Dienstag ist eine gemeinsame Wahlkampftour durch sieben Swing States geplant.
Es folgt der Konvent der Demokraten vom 19. bis 22. August in Chicago. Er dürfte nicht zum befürchteten Schlagabtausch, sondern zu einer grossen Party werden. Und ab Anfang September beginnt die «heisse» Phase des Wahlkampfs. Erst dann wird sich zeigen, ob die neue Lichtgestalt der Partei tatsächlich reif ist für den Sieg am 5. November.
Ich bleibe dabei: Biden wird stets unterschätzt. Und wenn Harris die Wahl schafft, geht er in die Geschichtsbücher ein.
Die Welt hat schon genug Probleme und braucht nicht noch ein weiteres Names Trump
1. Harris ist bereits Vize und springt sowieso dann ein, wenn der Präsident krank/nicht regierungsfähig ist.
2. Viele Amerikaner, insbesondere Wechselwähler, hatten wohl bisher die Haltung "vote nobody", da Biden und Trump zu alt seien.
Das hat sich nun geändert.