Eigentlich hätte Illya Shevtsov an diesem Wochenende mit Desna Chernihiv in der ukrainischen Liga gegen Metalist Charkiw spielen sollen. Es wäre der 24. Spieltag der Premjer Liha gewesen. Wegen des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine, der nun schon seit über sechs Wochen andauert, ist an Fussball aber nicht zu denken.
Im Interview mit watson spricht Shevtsov nun darüber, weshalb er den Krieg in seiner Heimat aus der Entfernung in Zypern beobachten muss und welche Schwierigkeiten es bei der Kommunikation mit Freunden und der Familie gibt. Seine Eltern leben noch immer in der mittlerweile russisch besetzten Stadt Cherson – ein Gespräch über Krieg, Hoffnung und Verzweiflung.
Zuerst die wichtigste Frage aktuell: Wo sind Sie gerade und sind Sie in Sicherheit?
Illya Shevtsov: Ja, ich bin in Sicherheit. Ich bin in Limassol, in Zypern, bei einem Freund. Er spielt für Apollon Limassol und beherbergt mich. Ich kann trainieren und mich fit halten.
Der Krieg startete vor sechs Wochen. Wo waren Sie, als Russland die Ukraine angegriffen hat?
Ich war nicht in der Ukraine, weil wir im Trainingslager in der Türkei waren. Die Saison sollte eigentlich am 26. Februar weitergehen. In den ersten Tagen des Kriegs wurde meine Heimatstadt Cherson besetzt. Meine Eltern leben dort. Es war unmöglich für mich, dorthin zu gehen.
Sind Ihre Eltern noch immer in Cherson?
Ja, und sie haben nicht viel Essen, weil die russischen Soldaten die ukrainische Hilfe nicht durchlassen. Es gibt zwar eine Möglichkeit, Cherson von Mykolaijw zu erreichen, aber die Strasse ist aktuell umkämpft. Es ist unmöglich, dort durchzukommen. Meine Eltern warten, dass sich die Situation verbessert oder die ukrainischen Soldaten gewinnen und Zugriff auf die Strasse nach Cherson bekommen.
Wie halten Sie aktuell Kontakt zu Ihren Eltern?
Wir telefonieren zweimal am Tag, aber in der ersten Kriegswoche hatten meine Eltern keinen Empfang. Ich konnte sie nicht anrufen. Es war grauenhaft, nicht zu wissen, wie es ihnen geht.
Wie ist es für Sie, all die Dinge aus Ihrer Heimat zu hören?
Durch den Fussball kenne ich viele Menschen in der ganzen Ukraine. Jeder spricht mit mir über die jeweilige Situation in den verschiedenen Städten. Es ist nicht gut. Die Situation im Süden, Norden und Osten ist wirklich schlecht. Viele Städte sind besetzt oder zerbombt, wie Charkiw, Chernihiv oder Mariupol. Mariupol ist fast vollständig zerstört.
Welchen Eindruck machen die Ukrainer, mit denen Sie in Kontakt stehen, auf Sie?
Jeder ist nervös. Sie können nicht über normale Dinge wie Fussball nachdenken oder mit Freunden unterwegs sein. Sie sind alle total angespannt. Selbst ich bin völlig fertig, wenn ich die Nachrichten lese. Man will alles über die Ukraine, Russland, Europa und bestimmte Regionen wissen, aber am Ende macht es dich verrückt. Das ist fürchterlich.
Und Sie wollen natürlich auch wissen, was in ihrer Heimatstadt bei den Eltern und Freunden passiert …
Gerade nehme ich das ganze Land als meinen Freund wahr. Wir sind eine Nation und sprechen eine Sprache. Wenn ich die Bilder aus unseren vorher wunderschönen Städten sehe, kommen mir die Tränen.
Chernihiv ist eine der Städte, die angegriffen werden. Sie spielen dort seit 2,5 Jahren. Die Stadt liegt rund 40 Kilometer von Belarus und 100 Kilometer von Russland entfernt. Wie war Chernihiv, bevor der Krieg begonnen hatte?
Es war für mich die schönste Stadt Europas, mit vielen alten Kirchen. Aber auch der Rest war schön und sauber. Ich konnte auch nichts Schlechtes über die Menschen aus Belarus oder Russland sagen. In Chernihiv gab es keine Konflikte mit ihnen. Aber das hat sich jetzt geändert.
Wie war es kulturell in Chernihiv?
Ich habe Russisch und Ukrainisch gesprochen. Ich glaube, die meisten Menschen haben sogar Russisch gesprochen, wie in Charkiw oder Cherson – das war aber nie ein Problem. Als ich gehört habe, dass das russische Parlament die russisch sprechenden Menschen durch die Invasion beschützen will, klang das total verrückt für mich. Ich spreche auch ein bisschen Englisch und Grossbritannien wollte mir auch nie helfen (lacht). Aber ernsthaft: Wir brauchen keinen Schutz. Niemand wollte diese Invasion.
Weil Sie sich als ukrainischer Staatsbürger fühlen …
Eben. Niemand versteht, was die Russen machen. Sie haben einen verrückten Präsidenten. Ich glaube auch, dass Ukrainer ein besseres Leben führen als Russen. Ich habe Freunde, die auf der Krim wohnen. Sie haben mir gesagt, dass es für sie besser war, als sie noch zur Ukraine gehörten.
Sind Sie Teil einer neuen ukrainischen Generation? Sie haben nie in der Sowjetunion gelebt ...
Natürlich weiss ich einiges über die Sowjetunion, weil meine Eltern dort geboren wurden. Aber die junge Generation will das nicht zurück. Die Sowjetunion ist 1991 zerfallen. Das ist über 30 Jahre her. Es ist vollkommen normal, dass die junge Generation sich als ukrainische Nation sieht.
Ein anderes grosses Thema in den letzten Tagen waren die Bilder aus Butscha. Was waren Ihre Gedanken, als Sie die gesehen haben?
Mir kamen die Tränen. Ähnlich ist es, wenn ich Bilder vom total zerstörten Mariupol sehe. Es war unmöglich, sich so etwas im 21. Jahrhundert mitten in Europa vorzustellen. Ich finde dazu nicht die richtigen Worte.
Trotzdem hält die Nato daran fest, nicht aktiv in den Krieg einzugreifen. Wie finden Sie das?
Ich glaube, dass sie Angst vor dem – meiner Meinung nach – verrückten russischen Präsidenten haben. Ich kann verstehen, dass sie nicht aktiv in den Krieg involviert werden wollen. Aber grosse Länder wie die USA, Frankreich, Grossbritannien, Italien und Spanien können Putin unter Druck setzen und mehr Sanktionen aussprechen, ohne in den Krieg zu ziehen. Ich bin sehr enttäuscht von der Nato, weil wir alleine gegen Russland sind und den Krieg nicht begonnen haben.
Wie könnte der Krieg gestoppt werden?
Davon träume ich immer wieder. Es ist sehr kompliziert, aber Putin wird die ganze Zeit angreifen, bis er tot ist und vielleicht ist das sogar die einzige Lösung. Wir hoffen, dass in einer Zeit nach ihm die russischen Politiker nicht mehr so verrückt sind.
Wie ist die Situation in Chernihiv gerade?
Ich habe zu einem Klub-Mitarbeiter gesprochen: Ungefähr 70 Prozent der Stadt sollen zerstört sein. Er hat mir erzählt, dass all meine persönlichen Dinge verloren oder zerstört sind. Sie waren im Klub-Zentrum, wo wir normalerweise einen Tag vor den Spieltagen übernachtet haben.
Der Verein hat Bilder vom völlig zerstörten Stadion veröffentlicht. Was haben Sie gedacht, als Sie sie gesehen haben?
Ich würde gerne aufwachen und realisieren, dass alles nur ein Traum war. Wir waren kurz davor, am 26. Februar wieder zu spielen und jetzt ist unser Team über ganz Europa verteilt. Unser Stadion war nicht so modern wie andere Arenen, aber dort schlug das Herz von Chernihiv. Es ist schrecklich, zu realisieren, dass dort vielleicht nie wieder gespielt wird.
Wollten Sie in die Ukraine zurück, als Sie vom Krieg erfahren haben?
Wir konnten nicht, weil schon eine Flugverbotszone eingerichtet war. Es wäre sehr kompliziert gewesen. Wir haben darüber gesprochen, wie wir den Menschen in der Ukraine helfen können.
Kam es Ihnen so vor, als seien in der Türkei Ihre Hände gebunden?
Es ist mental sehr hart. Man ist im Ausland und fragt Freunde und Eltern. Aber alles, was man machen kann, ist, mit ihnen zu sprechen. Wir hätten zurückkommen und uns der Armee anschliessen können, aber ich habe mich dazu entschieden, dass es hilfreicher ist, wenn ich Fussball spiele, Geld verdiene und damit die Familien, Kinder und Städte in der Ukraine unterstütze.
Wüssten Sie überhaupt, wie mit Waffen umgegangen werden muss?
Nein, ich weiss nicht mal, wie man ein Gewehr richtig hält. Ich hatte nie eine militärische Ausbildung. Wir Spieler sind der Meinung, dass wir hilfreicher sind, wenn wir im Ausland spielen und von dort Hilfe für die Ukraine organisieren oder sogar Familien aufnehmen.
Sind Teammitglieder von Ihnen zurück in die Ukraine gereist?
Zwei oder drei Spieler und der ganze Trainerstab mit dem medizinischen Personal sind zurückgereist. Sie versuchen dort als Freiwillige zu helfen und bringen Essen oder andere Dinge in die Städte.
Einige andere Spieler des Chernihiv-Kaders haben schon neue Klubs gefunden, beispielsweise in Ungarn oder Slowenien. Wie sieht Ihr Plan für die Zukunft aus?
Ich werde Zypern in den nächsten Tagen verlassen und hoffe, dass ich in einem anderen Land bei einem neuen Klub unterschreiben kann. Ich möchte auf jeden Fall weiter Fussball spielen.
Gibt es ein Szenario, in dem Ukrainer und Ukrainerinnen es akzeptieren würden, unter einer russischen Regierung zu leben?
Nein, definitiv nicht. Niemand möchte unter solchen Bedingungen leben. Wenn es dazu käme, würden sie das Land verlassen. Das ist keine Möglichkeit für die ukrainische Seele. Meine Heimatstadt Cherson ist das beste Beispiel.
Warum?
Meine Eltern haben mir erzählt, dass von der Krim einige russische LKW kamen, mit Essen und Dingen, die man im Alltag zum Leben braucht. Aber niemand nimmt diese Hilfe der Russen an, weil sie nicht unter russischer Kontrolle sein wollen.