Manuel Valls war als Kind oft im Tessin in den Ferien, wollte einst französischer Präsident und dann Bürgermeister von Barcelona werden. Am Donnerstag, 31. März um 18:30 Uhr hält er an der Uni Zürich einen Vortrag über die Wahlen in Frankreich.
Herr Valls, der Ukraine-Krieg beeinflusst die Wahlchancen für Macron positiv. Hat er die Wahl nun auf sicher?
Manuel Valls: Emmanuel Macron vermittelt den Franzosen das Gefühl, dass man ihm «die Schlüssel des Hauses» überlassen könne. Aber auch wenn der Staatschef gute Wahlchancen hat, muss er aufpassen. Wenn nur wenige Wähler an die Urnen gehen, wäre das fatal für seine zweite Amtszeit. Und eine Gefahr für Frankreich.
Inwiefern?
Frankreich ist gespalten, vom Populismus bedroht, und leicht entzündbar. Die Inflation und die Energiepreise könnten in neue Sozialproteste ausmünden. Die Gelbwestenkrise vor drei Jahren wurde ja auch durch eine Benzinpreiserhöhung ausgelöst. Die «gilets jaunes» haben jüngst Zulauf erhalten von Impfgegnern, Verschwörungstheoretikern und Extremisten. Die Parteien und Gewerkschaften werden dagegen immer schwächer. Da kommt etwas auf Frankreich und seinen nächsten Präsidenten zu.
Macron ist bei vielen Landsleuten verhasst. Wieso?
Ihm ist es nicht gelungen, die Franzosen miteinander und mit der Politik zu versöhnen. Ausserdem muss er aufgeschobene Reformen wie des Rentensystems endlich anpacken. Es gibt in Frankreich eine exzessive Zurückweisung aller Politiker und Erfolgreichen. Allerdings habe ich den Eindruck, dass die Animosität gegen Macron abgenommen hat – pandemiebedingt, nun auch kriegsbedingt.
Heisst das für Macron: Wiederwahl, aber zugleich mehr Widerstand gegen ihn?
Momentan siehts so aus, als ob er wiedergewählt würde. Offen ist, ob er bei den nachfolgenden Parlamentswahlen auch eine Regierungsmehrheit erhält. Die Lage ist sehr labil. In Frankreich krankt die Demokratie ähnlich wie die USA an den Trumpisten.
Zu sehen bei Eric Zemmour, dem Phänomen dieses Wahlkampfes. Aber jetzt verliert er Boden in den Umfragen...
... weil sich nun Zemmours wahres Gesicht zeigt. Jetzt stösst es auch Sympathisanten auf, dass Zemmour nach einem «französischen Putin» gerufen hatte. Zudem nimmt er eine unmenschliche Haltung gegenüber den ukrainischen Flüchtlingen ein.
Warum ist er im Wahlkampf überhaupt hochgekommen?
Weil Frankreich seine Probleme nie geregelt hat: Islamismus, unkontrollierte Einwanderung. Zemmour schlachtet auch verbreitete Gefühle des sozialen und nationalen Niedergangs aus. Wie die Lega Nord und die Fratelli d’Italia in Italien, oder wie Victor Orbán in Ungarn. Diese Populisten sind gut darin, die Probleme zu benennen, aber unfähig, Lösungen aufzuzeigen.
Nicht geschadet hat der Ukraine-Krieg der Populistin Marine Le Pen. Sie könnte wie schon 2017 in den zweiten Wahlgang vorstossen.
Das wirkt paradox. Schliesslich war Le Pen eng mit Putin befreundet und hat von einer ihm nahestehenden Bank sogar einen Millionenkredit erhalten. Die Erklärung für Le Pens starke Stellung liegt wohl darin, dass der Hardliner Zemmour sie als geradezu gemässigt erscheinen lässt.
Warum gibt sich Le Pen heute so samtweich?
Sie weiss, dass sie im TV-Streitgespräch von 2017 gegen Macron mit ihrem aggressiven Auftritt flach herauskam. Jetzt versucht sie, enttäuschte Wähler der Konservativen und der Linken anzusprechen.
Hat sie damit Erfolg?
Tatsache ist: Die drei Rechtskandidaten Le Pen, Zemmour und Nicolas Dupont-Aignan kommen auf 30 bis 33 Prozent der Stimmen. So stark wie heute war die extreme Rechte in Frankreich noch nie.
Die französische Politik ist sehr viril. Kann es da eine Frau überhaupt in den Elysée-Palast schaffen?
Ich glaube schon. Ségolène Royal hatte bereits 2007 gute Chancen gegen Nicolas Sarkozy. Heute gibt es mehr Kandidatinnen denn je. Sie sind stark bei Themen wie Lohnungleichheit oder Gewalt gegen Frauen.
Auf der Linken ist Jean-Luc Mélenchon zum Schluss im Vormarsch. Hat er Chancen?
Mélenchon ist ein talentierter Volkstribun, aber für Republikaner wie mich nicht tragbar. Er hat das Satiremagazin «Charlie Hebdo» nicht stark genug gegen die Islamisten verteidigt. Der kann eigentlich nicht gewinnen.
In Deutschland oder Skandinavien haben es Sozialdemokraten an die Macht geschafft. Warum sind sie in Frankreich weit davon entfernt?
Die Sozialdemokraten gewinnen die Wahlen dort, wo sie bereit sind, die neuen Realitäten zu akzeptieren. Nehmen Sie die dänischen Sozialdemokraten: Die sind sehr sozial, sehr ökologisch und hart in Immigrationsfragen. Die französische Linke ist inhaltlich zu zerstritten, um vereint anzutreten und zu gewinnen.
Eine persönliche Frage zum Abschluss: Ihre Mutter ist Tessinerin. Was verbindet Sie mit der Schweiz?
Vor allem meine Ferien. Ich bin in Barcelona geboren und in Frankreich aufgewachsen, aber den Sommer verbrachte ich als Junge häufig bei meinen Grosseltern im Blenio-Tal. Dort ist meine Mutter aufgewachsen. Auch mit meinen eigenen vier Kindern habe ich häufig Ferien im Tessin verbracht. Erinnerungen, die italienische Sprache...
...die Sie auch beherrschen?
Klar, capisco l’Italiano, lo parlo. Ich bewundere die Mehrsprachigkeit der Schweiz. Das erklärt auch die Kompromissfähigkeit zwischen den Kantonen. Ich hoffe nur, dass die Schweiz auch das Gespräch mit der EU wieder finden wird, um über die bilateralen Verträge zu beraten. Gewiss, die Schweiz hat ein eigenes Modell, sie ist neutral, aber sie braucht auch eine Verbindung zu Europa. Die Schweiz braucht Europa!