Belgien steht unter Schock, Europa leckt sich die Wunden. Und für den Held dieser Geschichte ist es wieder jene Zeit, in der er besonders viele Fragen zu beantworten hat.
«Es ist normal, dass Leute nach deinem Namen fragen. Warum, wieso, was er bedeutet», sagt der Iraker gegenüber watson. «Ich habe einen soziologischen Hintergrund und verstehe, woher die Fragen kommen.» Aber sein Fall ist etwas komplizierter ...
Stell dir mal vor, du heisst Jihad – und vor wenigen Tagen haben Islamisten mehrere Menschen gnadenlos niedergemetzelt. Und stell dir vor, du besuchst gerade einen Englischkurs in Newcastle – und musst erklären, warum du deinen Namen nicht ändern willst. So war das bei Jihad, dem Held dieser Geschichte also. Es war November und wenige Stunden zuvor haben Terroristen Paris angegriffen.
Jetzt richten sich alle Augen auf den Mann, der vor die Klasse getreten ist, um sich vorzustellen. Ein 42-jähriger Iraker ist an der Reihe. Er ist angespannt und flüstert fast, als er beginnt: «Mein Name ist Jihad, aber ich bin kein Terrorist. Ich bin ein Muslim, aber ich bin kein Terrorist. Islam ist nicht Terrorismus.»
Jihad schreibt seinen Namen an die Tafel. Es ist mucksmäuschenstill, als er erneut spricht. «Viele Freunde haben mir geraten, meinen Namen zu ändern, um unbequeme Situationen zu vermeiden. Vor allem, weil ich jetzt hier bin, in England. Aber ich kann nicht. Ich will es nicht.»
Jihad ist mit seiner Frau und seinen beiden Kindern aus dem Irak nach Grossbritannien gekommen. Der Kurde besuchte im November einen Master-Studiengang in Soziologie an der Universität Newcastle und nimmt deshalb am Sprachkurs teil. Der Schmerz über die Attentate von Paris ist mit Hunderten Toten und Verletzten noch frisch.
Der Mann fährt fort: «Ich will meinen Namen nicht ändern. Nicht einmal nach diesen schrecklichen Vorfällen. Es gibt eine negative Interpretation meines Namens. Man nutzt ihn, um so Leute zu bezeichnen, die Unschuldige töten. Leute, die Grausames tun. Ich will meinen Namen nicht ändern, weil das einfach bedeuten würde, dass ich ihre Taten akzeptiere und schlimme Aktionen wie jene in Paris unterstütze.»
Wer sich in jener Klasse nie mit dem Islam beschäftigt hat, mag sich in jenem Moment fragen, was der Iraker meint. Deshalb erklärt der abschliessend: «Wenn ich sehe, was im Namen des Islam und besonders im Namen des Jihad geschieht, bekümmert mich das sehr, weil das mit meiner Religion absolut nichts zu tun hat.»
Der Grund: Im Arabischen lässt sich fast jedes Wort auf drei Wurzeln zurückführen. Der Begriff Islam etwa kommt vom gleichen Wort wie Salam, also Frieden. Die Wurzeln sind die Buchstaben S (Sin), L (Lam) und m (Min). Das Wort Jihad hat die Wurzeln J (Dscha) H (Ha) und D (Da) – es kommt von jahada, was so viel heisst wie «eine grosse Anstrengung für Gott unternehmen». Das kann alles Mögliche sein: Geld für ein Kinderheim sammeln gehört genau so dazu wie die Pilgerfahrt (Hadsch) machen. Nur für Radikale ist es der «Heilige Krieg».
Die italienische Journalistin Claudia Cardilli hat diese Szene miterlebt – und für ihre Zeitung Avezzano Informa aufgezeichnet. «Alle haben sich wirklich sehr für das Thema interessiert und es war absolut still, während wir zugehört haben», erinnert sich Cardilli an die Szene. «Wir standen noch immer unter dem Eindruck dieser schrecklichen Nacht und hatten Jihad nach den Gründen für die Angriffe gefragt, aber er hatte keine Antwort. Er konnte nur erklären, dass Jihad nicht ‹töten› bedeutet.»
Nach seiner Rede hätten sich alle «bereichert» gefühlt, so die Italienerin. «Nach meiner Rückkehr musste ich immer wieder an Jihad denken und spürte ein grosses Verlangen, seine Worte niederzuschreiben. Denn nicht nur ich und meine Klassenkameraden, sondern die ganze Welt sollte das wissen. Als Jihad später meinen Artikel gesehen hat, bedankte er sich – aber er weiss nicht, dass eigentlich ich mich bedanken müsste – für diese Lektion.»
Inzwischen hat Jihad Newcastle verlassen. «Ich habe zwei Jahre in Grossbritannien gewohnt und bin in meine Heimat zurückgekehrt, weil mein Visum abgelaufen ist, nachdem mein Studium beendet war», erklärt uns der Iraker. Mit Blick auf die Szene im Sprachkurs ergänzt er: «Ich habe die Fragen leicht genommen und wollte unbedingt meinen Namen reinwaschen, weil in der Welt momentan etwas falsch läuft.»
Wer daran schuld ist? «Ich glaube, die Medien haben eine hässliche Rolle gespielt: Sie haben Angst unter den Leuten gesät, als sie die Mörder Jihadisten nannten», so Jihad gegenüber watson. Er nimmt die Presse in die Pflicht: «Ich rufe die Medien weltweit auf, solche Gruppen nicht mehr Jihadisten zu nennen, weil ihnen das Macht verleiht und sie ermutigt, ihr hässliches Spiel weiterzuspielen.»
Bleibt die Frage, ob er nun um sein Leben fürchten muss? «Die Stadt, in der ich lebe, ist weit weg vom Krieg und sicher. Aber die finanziellen und politischen Zustände werden schlechter und schlechter. Die Angestellten der kurdischen Regionalregierung haben beispielsweise zwischen September und Dezember gar kein Gehalt bekommen. Das Januarsalär wurde erst im März ausgezahlt. Die Menschen leben hier in schwierigen Umständen.»
Wir haben gerlernt: Der Aufbau einer zivilen Verwaltung ist ein Jihad – das Zerstören von Menschenleben ist es nicht.