Als Batsheva Yahalomi Cohen am 7. Oktober die ersten Schüsse hört, ist sie mit ihren drei Kindern und ihrem Ehemann noch im Schlafanzug. Sie rennen in den Schutzraum in ihrem Haus im Kibbuz Nir Oz, nur etwa zwei Kilometer entfernt vom Gazastreifen.
Doch die Tür, die die Familie vor Eindringlingen schützen soll, lässt sich nicht schliessen. «Wir hörten Schüsse und arabische Rufe, wie ‹Allahu Akbar›. Es roch nach Rauch und Feuer, es war gruselig» erinnert sich Yahalomi Cohen an den Moment. Ihre Stimme zittert – so wie der Rest ihres schmalen Körpers. Die Hände versteckt sie, während sie erzählt, unter dem Tisch.
Immer wieder zwingt sich die junge Frau jedoch, den Medienvertretern direkt in die Augen zu sehen. Denn sie hat etwas, wofür sie kämpft: «Ich bin hier, um um Hilfe zu bitten», sagt sie. Hilfe für ihren Mann Ohad und ihren zwölfjährigen Sohn Eitan. Die Terrororganisation Hamas hat die beiden so wie etwa 240 weitere Menschen vor mehr als vierzig Tagen nach Gaza verschleppt. Yahalomi Cohen gelang es, mit ihren beiden Töchtern zu fliehen, doch sie erlebt, so sagt sie, einen Albtraum, der nicht enden will.
Zusammen mit zwei weiteren Angehörigen israelischer Geiseln ist sie am Mittwoch nach Berlin gekommen, um mit Politikerinnen zu sprechen und in Deutschland ihre Geschichte zu erzählen. Die CDU-nahe Konrad-Adenauer-Stiftung hat den Austausch organisiert.
«Ohad ist ein sehr starker Mann, ein Held, so wie Iron Man», sagt Yahalomi Cohen zu t-online, betont dabei jedes Wort einzeln. Die beiden lernten sich bereits im Studium kennen, wurden später ein Paar. Als sich die Tür des Schutzraumes nicht schliessen liess, die Familie weiter Schüsse und Rufe hörte, entschied sich Ohad nach etwa zwei Stunden, aus dem Raum zu gehen und die Tür für seine Familie von aussen zuzuhalten. «Gegen 10 Uhr drangen die Terroristen dann in unser Haus ein und schossen auf Ohad», berichtet Yahalomi Cohen.
Vier bewaffnete Terroristen hätten den Schutzraum betreten. «Ich sagte meinen Kindern, sie sollen schreien, damit die Armee kommt, aber niemand kam uns retten», sagt Yahalomi Cohen. «Wir mussten mit den Terroristen mitgehen. Mein Mann sagte mir, dass er uns liebt und wir mitgehen sollen.»
Ohad selbst blieb schwer verletzt zurück – wie schwer, das weiss seine Frau nicht, auch nicht, ob er noch lebt. Als Ohads Schwester später – alarmiert durch Yahalomi Cohen – nach ihm sieht, ist er verschwunden. Die letzte Nachricht, die die Familie von ihm hat, ist die an einen Freund. «Er schrieb ihm, dass er an Arm und Bein verletzt ist, dass er Hilfe braucht, dass das unsere letzten Minuten sind», sagt Yahalomi Cohen.
Sie selbst seien indes von den Terroristen aus dem Haus gezerrt worden. «Sie versuchten, uns zu filmen. Ich sagte ihnen, dass sie nur mich nehmen und meine Kinder gehen lassen sollen», berichtet sie. Doch es half nichts: Yahalomi Cohen wurde mit ihren Töchtern (10 und 1,5 Jahre alt) auf ein Motorrad gezwungen. «Zum Glück weinte das Baby, darum gaben sie es mir», sagt sie. Ihren Sohn Eitan packten die Terroristen auf ein zweites Motorrad. «Erst bei der Fahrt sah ich, dass der ganze Kibbuz brannte, es war der Horror, überall waren Terroristen.»
Nach kurzer Fahrt trafen die ersten israelische Panzer in der Gegend ein, um den Kibbuz zurückzuerobern. Die Motorräder der Terroristen fuhren auseinander – und das Motorrad mit Eitan entfernte sich immer weiter von dem, auf dem Yahalomi Cohen mit ihren Töchtern sass. «Das war das letzte Mal, dass ich meinen Sohn sah. Sie fuhren ihn mit dem Motorrad Richtung Gaza», sagt Yahalomi Cohen. Seitdem lebt sie im Ungewissen.
«Ich weiss nicht, ob er noch lebt; er weiss nicht, ob wir noch leben. Vielleicht denkt er, er hat gar keine Familie mehr, zu der er zurückkommen kann», sagt sie im Gespräch mit t-online. Wie ein Mantra wiederholt sie immer wieder: «Kein Kind, sollte Teil dieses Krieges sein. Kein Kind, sollte ohne Mutter sein», und: «Die Kinder, die müssen zuerst freikommen.»
In ihren Träumen, so die Mutter, kümmert sich ihr 12-jähriger Sohn um die anderen Kinder in Geiselhaft, nach offiziellen Angaben sollen es 34 sein. Als er noch zu Hause war, habe er das gern gemacht, «die Kinder haben ihn geliebt», sagt seine Mutter t-online. Wenn sie von Eitan spricht, lächelt sie. Ein Fussballfan sei er gewesen – «nein, ist er», korrigiert sich Yahalomi Cohen – nicht nur sportlich, sondern auch sehr klug. Vom Bildungsministerium wurde er für ein «Exzellenzprogramm» ausgewählt, auch lesen liebe er – am meisten «Percey Jackson». Die neue Ausgabe habe sie bestellt, ihm aber nicht mehr schenken können. Nun trägt sie das Buch bei sich. «Ich hoffe, er kann es bald lesen», sagt die Mutter.
Sie selbst passte den Moment, in dem die Terroristen von den israelischen Panzern überrascht wurden, ab und flüchtete mit ihren Töchtern. «Nur im Pyjama rannten wir über die Felder», berichtet sie. Nach einer Weile sei sie so erschöpft gewesen, dass sie nicht habe weiterrennen können. «Ich sagte meiner Tochter, wir müssen uns hinlegen, damit uns die Terroristen nicht sehen», so Yahalomi Cohen. Unter einer Decke versuchten sie, sich zu verstecken – doch sie wurden entdeckt.
«Zwei Terroristen wollten, dass wir mit ihnen nach Gaza gehen, aber ich weigerte mich.» Weil sie sah, dass die Hamas-Terroristen unbewaffnet waren, rannten sie erneut um ihr Leben. «Ich wollte, dass es aufhört, aber es hörte nicht auf», so Yahalomi Cohen. Erst nach Stunden, zurück im Kibbuz, sei sie auf die israelische Armee getroffen, habe die Schwester Ohads über das Telefon eines Soldaten kontaktieren können. «Das war das erste Mal, dass ich weinte», so Yahalomi Cohen.
Doch nicht lange. Schnell habe sie verstanden, dass sie für ihre beiden Töchter stark sein müsse. «Sie haben nicht das Privileg, etwas tun zu können, also muss ich für sie kämpfen und sie [Ohad und Eitan] zurückholen», sagt Yahalomi Cohen. Langfristig wünscht sie sich Frieden. «Ich hoffe, dass wir aus diesem Horror herauskommen und einen Weg finden, da herauszuwachsen», so Yahalomi Cohen.
So wie ihr, geht es auch Avihai Brodutch, der aus dem Kibbuz Kfar Aza nach Berlin gekommen ist. Seine Ehefrau Hagar wurde gemeinsam mit ihren drei Kindern Ofri (10), Yuval (8) und Uriah (4) von den Hamas-Terroristen entführt, ebenso wie das kleine Nachbarsmädchen Abigail. «Als ich nach draussen ging, um zu helfen, sah ich ein Mädchen, die Tochter meines Freundes», berichtet Brodutch. «Sie war voller Blut. Später begriff ich, dass es das Blut ihres Vaters war», so Brodutch. So wie etwa zwanzig weitere Kinder hat Abigail bei dem Angriff durch die Hamas ihre Eltern verloren.
Nachdem Brodutch sie zu seiner Familie in den Schutzraum gebracht hatte, ging er, um seinen Kibbuz zu verteidigen. Mit Hagar blieb er per Textnachricht in Verbindung – bis der Kontakt abbrach. «Die letzte Nachricht, die ich von ihr bekam, war: ‹Jemand kommt ins Haus›», sagt Brodutch. Seitdem sind mehr als vierzig Tage vergangen. Im Haus wurden keine Leichen, keine Spuren von Gewalt gefunden, das Auto von Brodutch ist weg, also geht man davon aus, dass die Terroristen es, so wie weitere Wagen im Kibbuz, gestohlen – und mit ihnen Hagar, Ofri, Yuval und Uriah entführt haben.
«Ich bin wütend», sagt Brodutch und fährt sich mit der Hand über den Hinterkopf. «Alle Israelis kennen die Geschichte des Holocaust», holt er aus. Auch Mitglieder seiner Familie hätten die Vertreibung, die Shoah gegen Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten erlebt. «Und damit das nicht noch mal passiert, wurde Israel geschaffen, aber ich bin traurig, dass zu sagen: Es ist wieder passiert, auf israelischem Boden», so Brodutch. Beschuldigen wolle er dafür niemanden, fügt er an, auch nicht die Palästinenser.
Bereits in Friedenszeiten habe er sich für ein Ende des Nahostkonflikts eingesetzt. «Vom Fenster meines Schlafzimmers aus, habe ich auf den Gazastreifen schauen können und mir dabei nie Krieg gewünscht, sondern Frieden», so Brodutch. Auch jetzt hält er an diesem Wunsch fest. Zunächst wolle er seine Familie zurück. Doch dann habe er einen zweiten Wunsch: «Ich möchte Frieden, für beide Seiten. Wenn dieser Krieg nicht endet, werden wir uns immer wieder angreifen. Aber es muss ein Ende der Gewalt geben, das ist offensichtlich.» Vielleicht, so Brodutch, könnten beide Seiten langfristig einen Weg finden, der Menschen zu erinnern, die gestorben sind – in Frieden.
Gilad Korngold will darüber erst einmal nicht nachdenken. Als er die Bilder seiner Familie im Raum der Pressekonferenz sieht, bricht er in Tränen aus, muss sich kurz sammeln. Angesprochen auf ein mögliches Ende der Gewalt, sagt er, dass diese enden muss, doch sein Ton ist bitter. «Ich verstehe es nicht», sagt Korngold. «Diese Terroristen leben am schönsten Strand der Welt, aber kommen in unsere Häuser», sagt er, bevor seine Stimme wegbricht. «Jetzt gerade, will ich einfach nur meine Familie zurück», fängt er sich.
Sein Sohn Tal, seine Schwiegertochter Adi und die zwei Enkel Nave (8) und Yahel (3) waren bei dem Angriff der Hamas im Kibbuz Be'eri. Auch Adis Eltern sowie die Tante Sharon mit ihrem Sohn Noam (12) waren vor Ort. Adis Vater wurde durch die Terroristen ermordet, der Rest der Familie wird als Geiseln in Gaza vermutet.
Wie Puzzleteile hatte Korngold die Hinweise zunächst allein, dann mit israelischen Behörden zusammengesetzt: Ihr Haus ist abgebrannt. Ein Nachbar habe gesehen, wie Tal von Terroristen gefesselt aus dem Haus geführt wurde. Das Telefon von Adis Vater wurde später in Gaza geortet. Leichen oder menschliche Überreste wurden nicht in den Trümmern des Hauses gefunden. Ihr Auto? Fehlt – so wie bei anderen Geiseln.
Korngold war bei dem Angriff auf die Familie seines Sohnes, der auch die deutsche Staatsbürgerschaft hat, bei sich zu Hause. «Es war der Geburtstag meiner Schwiegertochter, meine Frau backte einen Kuchen, als wir den Alarm hörten», erinnert sich Korngold. Aus dem Schutzraum rief er seinen Sohn an, bei dem sich, wie bei der Familie von Batsheva Yahalomi Cohen, die Tür des Schutzraumes nicht schliessen liess.
Er wollte Hilfe organisieren. Aber sein Sohn Tal sagte ihm: «Die israelische Armee weiss, was zu tun ist, Papa. Lass sie ihre Arbeit machen.» «Aber ihm war nicht klar, dass draussen keine Armee war, es waren die Terroristen», sagt Korngold und Tränen treten ihm in die Augen. Wie die anderen Angehörigen will er nun zuerst die Kinder sicher wissen, dann den Rest seiner Familie.
Was er dann machen wird? Ein Foto von seinem Sohn. «Wir haben so viele Fotos von den Kindern gemacht, aber wir haben kein einziges Foto nur von meinem Sohn», sagt er. Wenn sie zurückkommen, dann wolle er jeden Tag Fotos von seiner Familie machen. Auch von Tal.
Kein Elternteil auf dieser Welt sollte jemals in so eine Position geraten und ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es für die Angehörigen sein muss, sich seit nunmehr 40 Tagen Nacht für Nacht die schrecklichsten Fragen stellen zu müssen...
Diese Ungewissheit muss pure Folter sein..!
Einfach nur ganz viel Kraft und alles erdenklich gute für diese starken Familien ❤️🙏😞..!!!