Der öffentlich ausgetragene Zwist zwischen Berlin und Paris bei der Ukraine-Hilfe alarmiert die russische Menschenrechtsaktivistin Irina Scherbakowa. Dies sei ein Zeichen «dafür, dass man nicht wirklich will, dass Putin den Krieg ganz verliert und die Ukraine den Krieg gewinnt», sagte sie am Mittwochabend bei «Markus Lanz». Wie schon zu Beginn des Krieges komme Unterstützung nur «tropfenweise».
«Es ist nicht so einfach getan: Liefert alles, was sie wollen, dann wird das schon werden», sagte der SPD-Aussenpolitiker Ralf Stegner. In der Debatte würden «immer verrücktere Dinge» vorgeschlagen und es werde so getan, als stünde Deutschland kurz vor dem Eintritt in den Krieg. «Es wird nur über die Frage diskutiert ‹Wie wird der Krieg geführt› und nicht ‹Wie kann man ihn beenden›», kommentierte Stegner unter anderem die seiner Ansicht nach «fetischhafte Debatte» um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern.
Da wollte es Lanz mal genau wissen. Sind wirklich deutsche Soldaten nötig, um die Marschflugkörper in der Ukraine zu programmieren? Das ist ein entscheidendes Gegenargument gegen die Lieferung, da dann Bundeswehrpersonal ins Kriegsgebiet geschickt werden müsste. Die Bedienung von Taurus könne Experten zufolge ukrainischen Soldaten beigebracht werden, «das ist keine grosse Sache», sagte Lanz.
«Das können Sie nicht beurteilen, ich auch nicht», zog sich Stegner – auch Obmann im Bundestagsunterausschuss Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung – wie so oft auf vermeintliche Unwissenheit zurück.
Lanz hakte nach: In Spanien oder Südkorea sei Taurus doch auch im Einsatz, ohne dass dort deutsche Soldaten präsent sein müssten. Diese Länder befänden sich nicht im Krieg, entgegnete der Sozialdemokrat.
Während Ralf Stegner uns erklärt, dass es ja wohl nicht richtig sein könne zu behaupten, unsere Demokratie könne nicht für eine ordentliche Verteidigung sagen, sagt er eigentlich genau das:
— Christian Wiesner (@ChristianHJW) February 28, 2024
Die Europäischen Demokratien sind zu schwach, um uns zu verteidigen....#Lanz #Stegner pic.twitter.com/Zn1zykV3uM
«Ich verstehe die Logik nicht», sagte da Scherbakowa und Lanz stimmte zu. Die Ukraine blute aus und habe nur 30 Prozent dessen bekommen, was ihr versprochen worden sei, kritisierte die Mitgründerin der mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichneten Organisation Memorial. Es gehe nicht nur um Taurus, sondern um die Unterstützung allgemein. Dass die in weiten Teilen ausbleibe, sei für Wladimir Putin und seinen «Mafiastaat» ein Zeichen der Schwäche.
«Wir haben in der gesamten Bandbreite nicht geliefert, was die Ukraine braucht», pflichtete Militärexperte Christian Mölling von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik Scherbakowa bei. Die Haltung von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) beschrieb er mit den Worten: «Wasch mich, aber mach mich nicht nass.»
Ukrainische Soldaten würden sterben, auch weil Deutschland es nicht geschafft habe, mehr Munition zu liefern. Andere Länder würden deutlich mehr ihres Bruttosozialprodukts in die Hilfe für die Ukraine stecken und dafür eine «Wohlstandsbeschneidung» hinnehmen, sagte Mölling.
Ähnlich sah es bei Lanz der «Correctiv»-Investigativjournalist und Russlandkenner Marcus Bensmann. «Wir haben das nicht begriffen, dass wir natürlich auch auf Kriegswirtschaft umstellen müssen», sagte er. Denn: «Wenn die Ukraine fällt und die USA sich aus der transatlantischen Bindung verabschiedet, wird Europa unter russische Dominanz fallen.»
Der Ernst der Lage ist nach Ansicht von Bensmann noch nicht allen gewahr geworden – inklusive womöglich Scholz. Von dem forderte er eine «Blut-Schweiss-und-Tränen-Rede», wie jene, mit der der britische Premierminister Winston Churchill sein Land zu Beginn des Zweiten Weltkriegs auf Entbehrungen eingestellt hatte. «Wenn Russland gewinnt, gibt es hier keine Demokratie mehr», warnte Bensmann beispielsweise vor vom Kreml gesteuerten Regierungen in Osteuropa, über die Putin direkt Einfluss auf die Europäische Union nehmen könnte.
70 Sekunden darüber, wie eine Demokratie einer kriegerischen Diktatur begegnen sollte.
— Daniel Eck 🇺🇦 (@eckilepsie) February 28, 2024
Ralf Stegner argumentativ komplett zerlegt. Und was wir von Scholz zu erwarten haben. Immer nur Otto Wels reicht halt nicht, SPD!
Chapeau, Marcus Bensmann! #Lanz pic.twitter.com/rXFH88JwWA
Bensmann hatte 2020 den russischen Oppositionsführer Alexei Nawalny in Freiburg getroffen, kurz vor dessen Rückkehr nach Russland und sofortiger Verhaftung. «Ich muss zurück», habe Nawalny seine Heimkehr begründet. Als Politiker könne er im Exil nicht glaubwürdig sein – denn auch das wäre vom Kreml als Schwäche ausgelegt worden, schilderte Bensmann im ZDF Nawalnys Motivation.
«Das war wirklich Mord auf Raten», bekräftigte Scherbakowa ihre Anklage zum Tod Nawalnys. Er habe noch schrecklichere Haftbedingungen als Michail Chodorkowski erleiden müssen – von 300 Tagen Einzelhaft in einer winzigen, armseligen Zelle bis zu Wasser, das kochend heiss habe getrunken werden müssen. «Er war Putins gefährlichster Gegner», würdigte Scherbakowa ihren Weggefährten.