In Russland ist an diesem Freitag das neue Schuljahr gestartet. Viele Schülerinnen und Schüler werden in dessen Verlauf ihr «Reifezeugnis» – das russische Abitur – ablegen. Doch ab diesem Jahr wird der Geschichtsunterricht für alle Elftklässler ein anderer sein. Denn Putin versucht, die jüngste Geschichte Russlands umzudeuten.
Zu diesem Zweck hat der Kreml das Geschichtsbuch für den elften Jahrgang umgeschrieben und mit einem Kapitel ergänzt, das die Zeit ab 2014 bis heute behandelt. In diesem Jahr besetzte Russland die Krim und begann einen Schattenkrieg in der Ostukraine. 2022 folgte die Invasion der Ukraine, die bis heute andauert.
Das 450 Seiten starke Buch ist das einzige, das künftig für den Geschichtsunterricht zugelassen sein wird, bisher gab es Wahlmöglichkeiten.
Was das Ziel des Buches ist, versucht der Kreml gar nicht mal zu verheimlichen. Bei der Vorstellung des Buches «Geschichte Russlands von 1945 bis zum 21. Jahrhundert» gab der Co-Autor, Putins Berater Waldimir Medinsy, offen zu, dass der Kreml mit den neuen Unterrichtsmaterialien vor allem Putins Sicht auf die Geschichte vermitteln will. «Das Buch gibt die Sicht des Staates wieder», so Medinsky Anfang August. Es sei in nur fünf Monaten mit «blossen Händen» geschrieben worden.
Bereits auf der ersten Seite gibt der Kreml seine Ziele preis. Neben einem Bild des ersten Mannes im All, dem Kosmonauten Juri Gagarin steht ein Zitat Putins, wie der Deutschlandfunk berichtet: «Der Zusammenbruch der Sowjetunion war die grösste geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts.»
Die ehemalige russische Lehrerin und Historikerin Tamara Eidelman bewertet das Buch auf ihrem YouTube-Kanal (1,3 Millionen Abonnenten) laut Deutschlandfunk folgendermassen: «Die Schlussfolgerung wird nicht gezogen, aber sie ist klar: Wie können wir zu diesem Staat zurückkehren?»
Selbst der Diktator Josef Stalin erfährt offenbar Milde im neuen Geschichtsbuch: Er werde massgeblich als Sieger des Zweiten Weltkriegs dargestellt, analysiert die «Neue Züricher Zeitung» (NZZ). Die nach seinem Tod erfolgte Entstalinisierung werde als «undurchdacht» kritisiert.
Auch die deutsche Geschichte wird umgedeutet: So bezeichnet das Buch die deutsche Wiedervereinigung als «Annexion der DDR durch die BRD», berichtet die NZZ.
Ab Seite 390 beschäftigt sich das Buch mit der Zeitgeschichte: «Russland heute – die militärische Spezialoperation» (wie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine offiziell in Russland heisst), berichtet der Deutschlandfunk. Die Leitfrage des Kapitels lautet: «Welche Gründe zwangen Russland, die spezielle Militäroperation zu beginnen?» Die Antwort liefert der Kreml gleich mit. «In der Ukraine gab es einen Staatsstreich und der Westen finanziert die Russophobie gegen ein besonders friedliebendes Russland», resümiert die Historikerin Eidelman das Kapitel im Deutschlandfunk. Es sind bekannte Propagandaerzählungen des Kremls.
Auch der mögliche Nato-Beitritt der Ukraine wird behandelt: Dieser werde darin als «Ende der Zivilisation» bezeichnet, das nicht zugelassen werden dürfe. Dazu kommen Verschwörungserzählungen, die man aus den Untiefen des Internets kennt: So würden in der Ukraine angeblich «US-Biolabore eingerichtet», die unter strengster Geheimhaltung arbeiten – eine Behauptung, für die es keine Belege gibt. Zudem behauptet das Buch faktenfrei, dass die Ukraine den Wunsch geäussert habe, Atomwaffen zu erwerben.
Auch die Sanktionen des Westens gegen die russische Wirtschaft werden im Geschichtsbuch umgedeutet. Die Schüler sollen diese eher als Chance sehen, statt als Problem. «Nach dem Rückzug ausländischer Unternehmen stehen Ihnen viele Märkte offen», erklärt das Buch. Es gebe «fantastische Möglichkeiten» für eine Karriere in der Wirtschaft und ein eigenes Start-up. «Verpassen Sie diese Chance nicht. Heute ist Russland wirklich ein Land der Möglichkeiten.»
Laut dem russischen Politikwissenschaftler Alexei Makarkin dient das Geschichtsbuch dem Kreml als Instrument, um junge Erwachsene in Russland überhaupt zu erreichen. «Der Staat hat tatsächlich nur wenige wirksame Möglichkeiten, mit jungen Menschen zu kommunizieren», so Makarkin auf Telegram. «Die jungen Menschen sehen nicht mehr fern, und man kann sie auch nicht dazu zwingen.»
Makarkin schreibt, er sei unsicher, ob das Buch seine erhoffte Wirkung entfalten werde. Viele Schüler seien «verloren», weil sie die Werte des Westens bereits übernommen hätten. Es gehe also darum, um die «Köpfe der heutigen Schüler» zu kämpfen, und zwar nicht nur im Geschichtsunterricht, so der Wissenschaftler.
Für den ehemaligen russischen Abgeordneten und Kremlgegner Aleksandr Osowtsow sind Putins Versuche, russische Schüler einer Gehirnwäsche zu unterziehen, nicht überraschend. «Jeder repressive Diktator, insbesondere einer, der einen Angriffskrieg gegen ein fremdes Land führt, braucht das», sagte Osowtsow dem US-Auslandssender «Radio Liberty».
Doch die staatlich organisierte Geschichtsklitterung in der Oberstufe reicht der russischen Führung offenbar nicht: Im kommenden Jahr will der Kreml auch die neuen Geschichtsbücher für die Klassen fünf bis neun fertigstellen. Der russische Historiker Sergei Chernyshow glaubt, dass diese «Propaganda» gegen die «gesunde Gleichgültigkeit junger Menschen» nicht bestehen könne, sagte er «Radio Liberty».
(t-online/dsc)