Pünktlich zum Beginn des neuen Schuljahres erhalten die russischen Schülerinnen und Schüler der 11. Abschlussklassen ein neues Geschichtsbuch. Bereits die einzelnen Kapitelüberschriften in «Russische Geschichte von 1945 bis zum Anfang des 21. Jahrhunderts» lassen erahnen, was die 16- und 17-jährigen Schulkids zu erwarten haben: eine einseitige Rechtfertigung des Angriffskriegs gegen die Ukraine.
Passend dazu prangt auf dem Umschlag ein Abbild der von Wladimir Putin erbauten Kertsch-Brücke, die das russische Festland mit der seit 2014 völkerrechtswidrig besetzten Krim verbindet. Gleich daneben wird mit einer Illustration aus Sowjetzeiten die russische Raketen- und Weltraumtechnologie gefeiert.
«US-Druck auf Russland», «Abwehr der westlichen Russlandstrategie», «Geschichtsfälschung» (Red., durch den Westen), «Ukrainischer Neo-Nazismus» oder «Widerstand gegen den Westen» und «Russlands neue Regionen»: Unter diesen Kapitelüberschriften wird eine Herleitung vorgenommen, welche die Schuld am Angriffskrieg gegen die Ukraine - ohne diesen je als solchen zu benennen - einzig dem Westen und dem «ukrainischen Neo-Nazi-Staat» zuschiebt.
Damit bildet das neue Geschichtsbuch exakt die staatliche Rechtfertigungslinie ab, die von Putin unermüdlich wiederholt wird. Stolz verkündete der russische Bildungsminister Sergej Krawzow bei der Vorstellung in Moskau, das neue Unterrichtswerk sei innerhalb von nur «knapp fünf Monaten» entstanden und werde nach Abschluss der «militärischen Spezialoperation» und dem Sieg Russlands auf den neuesten Stand gebracht.
Besonders auffällig ist das Lob auf die russische Armee, welche das Buch durchzieht: Eine Kapitelüberschrift, welche die Leistungen der eigenen Soldaten beschreibt, lautet «Russland ist ein Land der Helden». Nur dank der russischen Armee sei 2014 der Frieden auf der Krim «gesichert worden». Anderswo heisst es, die westlichen Sanktionen gegen Russland seien schlimmer als Napoleons Angriff auf Russland 1812.
«Es ist wichtig, den Schülern die Ziele der im Februar 2022 begonnen russischen Militäroperation in der Ukraine zu vermitteln», sagte Krawzow laut der Agentur AFP. Russland ziele einzig darauf ab, die ehemalige Sowjetrepublik zu «entmilitarisieren» und zu «entnazifizieren».
Das neue Schulbuch passt bestens zur Bildungspolitik unter Putin und der geistigen Aufrüstung, die an russischen Schulen in den vergangenen Jahren verstärkt Einzug gehalten hat. Dabei sind patriotische Übungen und vormilitärische Waffenkunde Teil des Unterrichtplans geworden. Diese werden insbesondere im Fach mit dem harmlosen Titel «Gespräche über wichtige Dinge» thematisiert.
Besonders abstossend muss diese staatliche Schulpropaganda auf die ukrainischen Eltern von Schülern in den besetzten Gebieten wirken, welche ebenfalls bald mit dem neuen Geschichtsbuch unterrichtet werden. Entsprechend brandet dem Unterrichtsmittel aus pro-ukrainischen Kreisen heftigste Kritik entgegen. So wird vielerorts der Vergleich zur diktatorisch verfügten Geschichtsfälschung in George Orwells Jahrhundertroman «1984» gezogen.
In Russia, a new Russia's history school textbook was presented, written by culture minister Medinsky. With Kerch bridge and a missile depicted on its cover, it has the following chapters: "US pressure on Russia", "Countering Western Russia-strategy", "Falsification of History… pic.twitter.com/5oU6Nu0pJC
— Sergej Sumlenny (@sumlenny) August 8, 2023
Der Osteuropa-Experte und Ukraine-Aktivist Sergej Sumlenny stellt in einem Tweet fest, mit dem neuen Geschichtsbuch werde nicht einmal mehr vorgegeben, dass Putins Regime «eine andere Rechtfertigung für den eigenen Lebensstil und das Ziel habe, andere Nationen zu zerstören und/oder zu versklaven».