4 Thesen, wie es in der Ukraine weitergeht
Seit Tagen bewegt sich die Front in der Ukraine nur noch marginal. Im Süden, in den Oblasten Donezk und Luhansk, kann Russland kleinere Landgewinne verzeichnen. Anderswo, in einigen Vororten von Kiew, Charkiw und Mykolajiw, waren die Ukrainer nach eigenen Angaben mit Gegenangriffen erfolgreich. Die Kräfteverhältnisse scheinen aktuell ausgeglichen.
Deshalb stellt sich die Frage, wie dieser Krieg weitergeht – und wann so etwas wie Frieden einkehren kann. Wir haben die meistgenannten Thesen zur aktuellen Situation zusammengestellt. Zu bedenken gilt aber: Es herrscht Krieg. Und im Krieg kommt es erstens anders und zweitens als man denkt.
These 1: Frieden ist noch lange nicht in Sicht
Relativ einig sind sich die Experten über die Dauer des Krieges: Frieden wird es noch länger keinen geben. Gegen einen Frieden sprechen laut Daniel W. Drezner (Professor für Internationale Beziehungen an der Fletcher School of Law and Diplomacy) in der «Washington Post» paradoxerweise die ausgeglichenen Kräfteverhältnisse. Beide Parteien glauben an den Sieg. Dementsprechend unnachgiebig präsentieren sie sich bei den Verhandlungen. Erst wenn das Pendel relativ deutlich in eine Richtung ausschlägt, wird die unterlegene Partei bereit sein, der designierten Siegermacht Eingeständnisse einzuräumen.
Für eine längere Fortdauer spricht laut Gideon Rachman («Financial Times») die hohe Falltiefe für beide Parteien. Die Ukrainer kämpfen um die Unabhängigkeit und Freiheit ihres Landes, Präsident Putin um sein politisches und physisches Überleben. Eine Niederlage hat für beide Parteien die schwerwiegendsten Konsequenzen. Dementsprechend unnachgiebig agieren sie.
These 2: Der Krieg ist an einem Kulminationspunkt angekommen
Die Kulminationspunkt-Theorie wurde vom preussischen Militärstrategen Carl von Clausewitz 1832 formuliert. Der Kulminationspunkt ist nach Clausewitz erreicht, wenn die angreifende Seite die vorhandenen Mittel in Sachen Personal, Waffen, aber auch Logistik komplett ausgeschöpft hat – und aufgrund dessen keine weiteren Fortschritte erzielen kann. John R. Deni, Professor am Strategic Studies Institute (SSI) der US-Armee, glaubt, dass Russland diesen Punkt erreicht hat. Er ist damit nicht alleine. Der ehemalige Kommandant der US-Truppen in Europa, Ben Hodges, stützt diese These.
Der Krieg ist für Russland damit nicht verloren, doch er ist damit an einem Wendepunkt angelangt. Die russischen Truppen müssen von einem Angriffskrieg auf einen Stellungskrieg umschalten, die Ukraine wird im Gegenzug gezwungen, in die Offensive zu gehen. Satellitenbilder liefern Indizien, welche diese These stützen. Russland hat vor Kiew mit dem Bau von Verteidigungsstellungen begonnen. Gleichzeitig häufen sich die Meldungen von ukrainischen Offensiven.
Um weitere territoriale Gewinne zu erzielen – sofern das von Russland angestrebt wird –, braucht Russland gemäss dieser Theorie neue Kräfte. Diese müssen zuerst mobilisiert und in Stellung gebracht werden. Dieser Vorgang dauert Wochen, wenn nicht sogar Monate. Dass mindestens Überlegungen in diese Richtung existieren, untermauert eine kürzlich eingeführte russische Verordnung. Künftig kann Moskau auch 17-Jährige für den Kriegsdienst gegen die Ukraine einziehen.
These 3: Eskalation
Russland hat mit seinen verschiedenen Massenvernichtungswaffen praktisch unendliches Potenzial, die Eskalationsstufe zu erhöhen. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow schloss in einem Interview mit der CNN-Reporterin Christiane Amanpour den Einsatz von Atomwaffen nicht aus. Sie würden im Falle einer «existentiellen Bedrohung» zum Einsatz kommen.
Die Eskalation hat indes längst begonnen. Die Inkaufnahme tausender ziviler Opfer in Mariupol wird bereits als solche gewertet. Sollten die Erfolge weiter ausbleiben, wird den Invasoren noch mehr zugetraut:
- Die Anwendung der Grosny/Mariupol-Taktik auf Kiew und andere Grossstädte.
Das ehemals multikulturelle Grosny wurde 1995 und 1999 durch Artilleriefeuer und flächendeckende Bombardements innerhalb von 5 Jahren zweimal in Schutt und Asche gelegt. «Die russischen Streitkräfte sind zuallererst eine Artillerie-Armee», sagte der österreichische Militäranalyst Franz-Stefan Gady gegenüber dem ZDF. In Tschetschenien wurden damit zwischen 100’000 und 200’000 Zivilisten getötet. Kiew ist ungefähr 10-mal so gross wie Grosny. - Der Einsatz biologischer oder chemischer Kampfstoffe.
- Der Angriff auf Waffenlieferungen und Lager im Nato-Gebiet, zum Beispiel in Polen.
Die Experten des «Economist» gehen allerdings nicht davon aus, dass Putin Ziele auf NATO-Boden attackiert. Je höher Russland die Eskalationsstufe treibt, desto grösser wird der Druck auf die NATO, darauf zu antworten, und damit das Risiko eines Flächenbrands ausserhalb der ukrainischen Grenzen.
These 4: Putin verliert die Macht in Moskau
Die bisherigen Thesen stützen die Erwartung eines längeren Kriegsverlaufs. Schneller könnte es gehen, wenn Putin entmachtet wird. Der Krieg in der Ukraine hat unlängst auch innenpolitische Opfer in Russland gefordert. Zwei hochrangige FSB-Mitglieder (Nachrichtendienst, Nachfolgeorganisation des KGB), welche in die Planung der Invasion involviert waren, sollen unter Hausarrest stehen. Unbestätigten Berichten zufolge soll auch Roman Gawrilow, Vize-Chef der russischen Nationalgarde, festgenommen worden sein.
Dies wird als Zeichen gedeutet, dass Putin bereits nach Schuldigen für den erfolglosen Feldzug sucht. Das Vorgehen kann sich für den russischen Machthaber aber auch als Bumerang herausstellen. Designierte Putin-Opfer können sich gegen ihn verschwören. Die ehemalige Diplomatin Esther Tetruashvily erwartet deshalb einen möglichen Nachfolger Putins aus den eigenen Reihen. Wenig glaubwürdig sind in dieser Hinsicht ukrainische Quellen, die behaupten, der Nachfolger würde mit dem FSB-Mann Alexander Bortnikow bereits feststehen.
Ex-KGB-Spion Putin weiss selber, dass er in Gefahr schwebt. Er wird entsprechende Massnahmen eingeleitet haben.
Sollte es in Moskau tatsächlich zu einem Machtwechsel kommen, sind bessere Zeiten aber nicht garantiert. Noch einmal Tetruashvily: «Wie immer Russland nach Putin aussieht, es wird womöglich nicht so sein, wie sich das westliche Demokratien erhoffen.»