Trotz der ernsten Lage wirkt das Bild skurril: Ein in die Jahre gekommener Soldat ruft in einem Video die Bewohner der russischen Stadt Konakowo dazu auf, sich freiwillig beim Militär zu melden. Mindestens für drei Monate müsse man unterschreiben, als Bezahlung werden umgerechnet zwischen 3'400 und 6'800 Euro versprochen. Ob es sich dabei um ein monatliches Gehalt oder die Gesamtsumme für die Soldaten handelt, wird nicht erwähnt. Notwendig sei eine gute Gesundheit, betont Juri Negowora.
In sozialen Netzwerken in der Ukraine machten sich Menschen lustig über den Aufruf des greisen Mannes in Uniform, der immer wieder nach Worten sucht. So weit sei es schon mit dem Einsatz der Russen, dass derartige Aufrufe nötig seien. Es gibt immer wieder Berichte auch in Russland, dass sich Angehörige der Sicherheitsstrukturen gegen einen Kampfeinsatz in der Ukraine wehren.
So merkwürdig der Aufruf wirkt, steht dahinter dennoch ein ernstes Problem für den Kreml: Denn obwohl die russischen Truppen in der Ukraine zuletzt im Osten weitere Gebiete erobert haben, muss die Armee von Wladimir Putin bereits enorme Verluste hinnehmen. Experten vermuten, dass hinter dem Appell aus Konakowo ein grösserer Plan steckt. Schliesslich finden sich ähnliche Appelle auch in anderen Teilen des Landes.
Der amerikanische Thinktank «Institute for the Study of War» (ISW) berichtete kürzlich davon, dass der Kreml womöglich die Anweisung gegeben haben könnte, dass jede russische Region ein Freiwilligenbataillon aufstellen solle. Dabei handelt es sich wohl um einen Aufruf, der sich auf die 85 «Föderationssubjekte» Russlands inklusive der besetzten Gebiete in der Ostukraine bezieht.
Konkret geht das ISW davon aus, dass dadurch rund 34'000 weitere Soldaten gefunden werden könnten, ausgehend von einer Bataillonsstärke von jeweils 400 Kämpfern. Alle Freiwilligen sollen demnach eine einmonatige Ausbildung erhalten, bevor sie an die ukrainische Front geschickt werden. Um neue Soldaten zu finden, hatte der Kreml eine Generalmobilmachung bislang vermieden. Denn dann müsste die «militärische Spezialoperation», wie Putin die Invasion nennt, offiziell als Krieg bezeichnet werden.
Sollten die Russen tatsächlich auf anderem Wege so viele Soldaten in den kommenden Monaten mobilisieren können, würde man dadurch annähernd die Zahl der Verluste ausgleichen können – zumindest wenn man den Zahlen der ukrainischen Armee Glauben schenkt: Das ukrainische Verteidigungsministerium teilte in seinem täglichen Briefing am Freitagmorgen mit, dass seit Kriegsbeginn rund 38'000 russische Soldaten getötet worden seien.
Dazu kommt der Verlust von militärischem Gerät aufseiten Russlands. Etwa seien mehr als 1'670 Panzer, rund 3'800 gepanzerte Fahrzeuge, 109 Artilleriesysteme oder 220 Flugkörper zerstört worden. Russland selbst gibt seine Verluste deutlich geringer an, wenn überhaupt: Ende März sprach das Militär von lediglich 1'351 Verlusten in den eigenen Reihen.
Obgleich sich die Zahlen nicht unabhängig überprüfen lassen, ist davon auszugehen, dass die ukrainischen Angaben eher der Realität entsprechen: Ein Nato-Insider sprach im «Business Insider» bereits Ende März davon, dass in dem Krieg schätzungsweise 40'000 russische Soldaten verletzt, gefangen genommen oder getötet worden seien.
Hinzu kommt, dass sich die Meldungen verdichten, dass die ukrainische Armee – unterstützt durch neue Waffenlieferungen – neue Kraft geschöpft hat: Als besonders effektiv scheint sich dabei der amerikanische Mehrfachraketenwerfer Himars zu erweisen. Auch kremlkritische russische Medien berichten, dass Moskau kaum Zeit gehabt habe, die erfolgreiche Eroberung des Gebiets Luhansk zu feiern. Russland habe zwar einen Vorteil durch seine Artillerie und Munitionsvorräte. Aber der US-Raketenwerfer mit seinen durch GPS punktgenau platzierten Raketen versetze den russischen Einheiten empfindliche Schläge, heisst es in einer Analyse des Portals Meduza.
Das Himars-System bedrohe die Sicherheit der «Volksrepublik Luhansk», räumte in dieser Woche auch der Chef der von Russland als Staat anerkannten Region ein. «Zum Glück haben sie nicht viele solcher Waffen. Deshalb gibt es überhaupt gar keinen Grund zur Panik», sagte Leonid Passetschnik.
Russland müsse nun die Versorgung seiner Truppen im Donbass und in der Region Charkiw im Osten sowie in den Gebieten Saporischschja und Cherson im Süden mit Waffen, Munition und Treibstoff neu ausrichten. Es sei nicht klar, ob dies ohne eine grössere Mobilmachung gelinge.
Selbst wenn die russische Armee weiter Personal dazugewinnen kann, dürfte das Militär allerdings insgesamt geschwächt sein: Bereits jetzt wurden die russischen Truppen mit weniger erfahrenen Reservisten aufgefüllt. Hinzu kommen die Meldungen über zahlreiche gefallene Generäle und andere Topmilitärs, wodurch die Kommandostrukturen gestört werden. «Die enorme Abnutzung der russischen Berufsarmee dürfte erst nach einigen Jahren wieder behoben sein», schrieben zuletzt zahlreiche deutsche Militärexperten in einem Gastbeitrag der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung».
Einen Grund zur Entwarnung gab der Text jedoch nicht: Denn es bestehe die Gefahr, dass die ebenfalls stark dezimierte Ukraine in einen langen Abnutzungskrieg gezogen wird, in dem Russland letztendlich die Oberhand gewinnen könnte.
Verwendete Quellen:
((das,t-online,dpa ))
Ein Monat Ausbildung und ab zum Sterben.