International
Russland

Ukrainekrieg: Die ukrainische Sanitäterin in russischer Gefangenschaft

Ukrainian medic Yuliia Paievska, known as Taira, poses for a photograph during an interview with The Associated Press in Kyiv, Ukraine, on Friday, July 8, 2022. The celebrated Ukrainian medic who was  ...
Taira in Kiew am 8. Juli 2022. Sie ist eine ukrainische Heldin.Bild: keystone

«Ich bin mit Gott im Reinen. Aber ihr kommt definitiv in die Hölle»

12.07.2022, 20:2213.07.2022, 13:07
Mehr «International»

Taira heisst eigentlich Yuliia Paiewska. Und Taira war eine Kriegsgefangene der Russen.

Eine ukrainische Heldin war die Militärsanitäterin bereits, bevor die russische Armee ihr Heimatland im Februar 2022 angegriffen hat. Doch das, was die 53-Jährige jetzt der Nachrichtenagentur «Associated Press» (AP) über ihren Einsatz in der belagerten Stadt Mariupol und ihre Tage in russischer Gefangenschaft erzählt hat, macht sie endgültig zu einer Ikone.

Tairas Geschichte, so wie sie die AP-Journalisten erzählen, ist eindrücklich und bedrückend. Es ist eine Geschichte, in der ein echter Prinz sowie ein äusserst brutaler Bösewicht vorkommen und in der eine Kamera und eine Heldin – die kein Schwarz-Weiss, sondern nur Menschlichkeit kennt – die Hauptrolle spielen.

Triggerwarnung
In diesem Artikel geht es um eine Sanitäterin im Ukraine-Krieg. Der Text enthält Bilder mit Blut und toten Körpern – aber keine identifizierbaren Gesichter. Bei manchen Menschen können diese Bilder negative Reaktionen, Flashbacks oder Traumata auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Alle Bilder müssen bewusst angeklickt werden. Der Beitrag kann also auch ohne die genannten Bilder gelesen werden.

Die Geschichte der AP geht so:

Prinz Harry und die Body-Cam

Taira war von 2018 bis 2020 Militärsanitäterin. Danach wurde sie wegen Rücken- und Hüftverletzungen demobilisiert. In der Folge wurde sie Mitglied der ukrainischen Mannschaft, die im April dieses Jahres hätte an den Invictus Games antreten sollen – einer Art paralympische Olympiade für kriegsversehrte Veteranen. Taira wollte im Bogenschiessen und Schwimmen antreten.

Doch es kam alles anders.

In this 2018 photo provided by the Invictus Games Team Ukraine, Yuliia Paievska, known as Taira, pauses in the pool during trials in Kyiv, Ukraine. Taira was a member of the Ukraine Invictus Games for ...
Dieses Foto von 2018 wurde vom ukrainischen Team der Invictus Games zur Verfügung gestellt. Es zeigt Taira während eines Testlaufes für die Schwimmwettbewerbe in Kiew.Bild: keystone via Ap
Ukrainian medic Yuliia Paievska, known as Taira, shoots a bow during the archery training in Kyiv, Ukraine, on Friday, July 8, 2022. The celebrated Ukrainian medic who was held captive by Russian forc ...
Taira schiesst einen Bogen während eines Trainings in Kiew, Ukraine, am Freitag, 8. Juli 2022.Bild: keystone

Schirmherr und Erfinder der Invictus Games ist der britische Prinz Harry. Und dieser plante nicht nur die Spiele im April 2022 durchzuführen, sondern auch in einer Netflix-Dokumentationsserie «inspirierende Persönlichkeiten» der Spiele zu porträtieren.

Taira hätte eine dieser «inspirierenden Persönlichkeiten» sein sollen. Darum erhielt sie vom britischen Prinzen 2021 eine Body-Cam ausgehändigt, um ihr Leben zu dokumentieren. Und als die russischen Streitkräfte im Februar einmarschierten, richtete sie das Objektiv auf ihr Tun im Krieg.

Yuliia Paievska, known as Taira, looks in the mirror and turns off her camera in Mariupol, Ukraine on Feb. 27, 2022. Using a body camera, she recorded her team's frantic efforts to bring people b ...
Taira und die Body-Cam am 27. Februar 2022.Bild: keystone

Die Sanitäterin, die nicht zwischen Freund und Feind unterscheidet

Mit der kleinen Kamera hat Taira 256 Gigabyte Aufnahmen von ihrer Arbeit im Krieg gemacht. Die Videos zeigen, wie Taira und ihr Team versuchen, die Verwundeten in der belagerten Stadt Mariupol zu retten.

Über die Einnahme von Mariupol sagt Taira der AP:

«(Die Stadt) starb wie ein Mensch – es war qualvoll.»

Tairas Videos sind erschütternd. Denn sie zeigen die Unmittelbarkeit des Krieges – und zeugen trotzdem von einem unbändigen Überlebenswillen der Menschen in der Ukraine.

Surprise
Ein verletztes ukrainisches Kind wird von Taira und ihrem Team behandelt.Bild: keystone
Surprise
Verwundete russische Soldaten. Auch sie werden von Taira behandelt.Bild: keystone
Surprise
Ein Soldat wird eingeliefert. Anhand des Bildes wird nicht klar, ob es sich um einen Russen oder einen Ukrainer handelt.Bild: keystone

Die Kamera läuft immer mit. Sie läuft, während Taira verwundete Soldaten behandelt – egal ob russische oder ukrainische. Die Sanitäterin nennt ihre Patienten jeweils «Sonnenschein». Das mache sie mit fast jedem, der in ihr Leben trete, sagt sie der AP. Für ihre Bereitschaft auch russischen Verwundeten zu helfen, wurde sie von ukrainischer Seite auch kritisiert.

Die Kamera läuft auch, als Taira den Tod eines Jungen miterlebt. In den Aufnahmen sieht man, wie die Sanitäterin nach dem Tod des Kindes weinend zusammenbricht, mit blutverschmierten Händen an die Wand gelehnt. Der AP sagt sie, dass dies einer der seltenen Kontrollverluste gewesen sei. Und sie fügt an:

«Wenn ich die ganze Zeit weinen würde, hätte ich keine Zeit mehr, mich um die Verwundeten zu kümmern. So wurde ich während des Krieges natürlich etwas härter.»

Achtung! In diesem Video sieht man ein totes Kind.

Die Schwester des Jungen konnte die Sanitäterin mit ihrem Team übrigens retten. Sie ist nun eines der vielen Waisenkinder von Mariupol.

Der Tampon und die gefallene Stadt

Um die wichtigen Zeitdokumente vor der russischen Armee zu schützen, übergibt Taira das gesamte Video-Material zwei Journalisten der AP – dem letzten internationalen Team in Mariupol.

Die Journalisten fliehen am 15. März aus der Stadt, wobei sie den Datenspeicher in einen Tampon stecken und ihn so durch 15 russische Kontrollpunkte schmuggeln.

Am nächsten Tag wird Taira von prorussischen Kräften festgenommen.

Über die letzte Reportage des letzten internationalen Journalisten-Teams in Mariupol:

Nur Stunden bevor Taira gefangen genommen wird, zertrümmern russische Bomben das Theater von Mariupol – den Hauptbunker der Stadt. Hunderte Menschen sterben.

Taira versucht zu dieser Zeit Kinder, die sich bis dahin im Keller ihres Krankenhauses versteckt hielten, aus der Stadt zu schleusen. Doch russische Kontrollposten entdeckten die Sanitäterin bei ihrem Vorhaben. Der AP sagt sie:

«Sie erkannten mich. Sie gingen weg, telefonierten und kamen wieder zurück.»

Fünf Tage später geben russische Nachrichtensendungen bekannt, dass Taira gefangengenommen worden war, denn sie – ein Nazi – habe versucht, «getarnt aus der Stadt zu fliehen».

Taira in russischer Gefangenschaft

Drei Monate später tauchte Taira wieder auf, am 17. Juni. Dünn ist sie geworden und abgemagert, aber sie lebte.

Taira sei während dieser Zeit in einem Hochsicherheitsgefängnis eingesperrt gewesen, schreibt die AP. Ihre Zelle: drei mal sechs Meter gross mit zehn Feldbetten. Taira teilt sie sich mit 21 anderen Frauen.

Die AP-Journalisten schreiben: «Sie wählt ihre Worte sorgfältig, wenn sie über den Tag ihrer Gefangennahme spricht. Und sie ist sogar noch vorsichtiger, wenn sie über das Gefängnis spricht, aus Angst, die Ukrainer, die sich noch dort befinden, zu gefährden.» Aber immerhin spricht Taira in Kiew mit einem AP-Team.

Ukrainian medic Yuliia Paievska, known as Taira, poses for a photograph during an interview with The Associated Press in Kyiv, Ukraine, on Friday, July 8, 2022. The celebrated Ukrainian medic who was  ...
Taira kann wieder lächeln. Hier während des Interview-Termins mit den AP-Journalisten am 8. Juli 2022 in Kiew.Bild: keystone

Die Journalisten fragen Taira, ob sie sich noch schuldig fühle, da sie ihre Mitgefangenen zurücklassen musste. Sie antwortet:

«Ich denke an nichts anderes als an sie.»

Tatsächlich sind nicht nur die 21 Frauen aus Tairas Zelle, sondern noch hunderte, wenn nicht tausende andere Ukrainer in russischer Gefangenschaft. Der Bürgermeister von Mariupol habe kürzlich gesagt, dass allein in seiner Stadt 10'000 Menschen verschwunden seien.

Taira erzählt, dass die Gefangenen der russischen Propaganda ausgesetzt worden seien. Sie sei sogar gezwungen worden, die russische Hymne zu singen, bis zu 30-mal am Tag.

«Und viele Menschen begannen das zu glauben. Sie haben gesehen, wie das unter dem Einfluss der Propaganda geschieht. Die Menschen beginnen zu verzweifeln.»

Zusätzlich seien die Gefangenen durch das schlechte Essen und die schlechten hygienischen Bedingungen zermürbt worden.

Das Schlimmste sei aber gewesen, dass die Gefängniswärter sie unter Druck gesetzt hätten, zu gestehen, dass sie Menschen mutwillig getötet habe. Sie habe dies aber nicht gestanden, darum habe man versucht, ihr Organhandel vorzuwerfen. Diese Anschuldigung sei aber völlig absurd gewesen: «Organe auf dem Schlachtfeld entnehmen – haben Sie eine Ahnung, wie kompliziert diese Operation ist?» Darum habe sie auch das nicht gestanden, sondern gesagt:

«Sie können mich erschiessen, aber ich werde nicht gestehen.»

Irgendwann habe man sie zu einem scheinbar weiteren Verhör herausgepickt. Doch anstatt Taira zu befragen, hätten die Wärter sie gezwungen, ein Video aufzunehmen, in dem sie erklären sollte, dass es ihr gut gehe. Das habe sie gemacht, obwohl es eine «Lüge» gewesen sei. Kurz darauf sei sie freigelassen worden. Man habe sie sogar noch an dem Gefangenen vorbeigeführt, gegen den sie ausgetauscht worden sei.

Tairas Erzählungen decken sich mit anderen Erzählungen und Berichten. Und sie sind ein weiterer Beweis für die Kriegsverbrechen, die die russische Armee in der Ukraine begehen.

Und was kommt jetzt?

Taira hat Pläne für ihre Zukunft: Sie wolle zuerst wieder gesund werden, dann definitiv an den Invictus Games teilnehmen und danach ein Buch schreiben – und zwar darüber, wie man sich als Gefangener verhalten soll.

Auf die Frage, ob sie den Tod gefürchtet habe in russischer Gefangenschaft, sagt Yuliia Paiewska, dass sie ihren Peinigern jeweils gesagt habe:

«Ich bin mit Gott im Reinen. Aber ihr kommt definitiv in die Hölle.»

(yam)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Bilder des Ukraine-Kriegs, die um die Welt gehen
1 / 9
Bilder des Ukraine-Kriegs, die um die Welt gehen
Menschen versammelten sich am 24. Februar am New Yorker Times Square, um gegen die russische Invasion zu protestieren.
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Gewaltiger Brand im Osten der Ukraine: «Die Russen verbrennen unser Brot»
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
39 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Gandalf-der-Blaue
12.07.2022 20:28registriert Januar 2014
Bewegend. Schockierend und - trotz all des Schreckens - überaus ermutigend. Und für uns hier im wohlbehüteten Westen: Etwas kühlere Wohnungen sind gemessen an dem, was die Ukrainer erleben ein wahrhaft kleiner Preis, um Putin in die Schranken zu weisen.
19212
Melden
Zum Kommentar
avatar
Liebu
12.07.2022 20:28registriert Oktober 2020
Eindrücklich und bedrückend wie im Bericht beschrieben.
Solche Menschen gibt es auf beiden Seiten. Sie werden aber viel zu wenig gehört. Zu oft überwiegen Grusel und Gräueltaten.
Ich denke, der Welt ginge es besser, es gäbe mehr Yuliias als Putins oder sonstige Spinner.
1146
Melden
Zum Kommentar
avatar
RedLily74
12.07.2022 21:11registriert April 2022
Wow! Ich ziehe meinen Hut! Und hoffe, sie kann ihr gutes Werk trotz diesen Erlebnissen weiterführen 🙏🏻
836
Melden
Zum Kommentar
39
Polizei greift bei Protesten an US-Unis durch – Abschlussfeier mit 65'000 Menschen abgesagt
In den USA haben sich die propalästinensischen Demonstrationen an Universitäten auf andere Landesteile ausgeweitet und teils verschärft.

In der Westküstenmetropole Los Angeles nahm die Polizei am Mittwochabend (Ortszeit) 93 Menschen fest, die während Demonstrationen auf das Gelände der University of Southern California vorgedrungen sein sollen, wie der US-Sender CNN berichtete.

Zur Story