Krieg hat viele Gesichter. Eine seiner hässlichsten Fratzen ist der meist blutige Tod von Zivilistinnen und Zivilisten, Soldatinnen und Soldaten. Bilder aus den Städten Mariupol und Charkiw zeigen das Ausmass dieses Sterbens in der Ukraine. Berichte der Medienschaffenden vor Ort tradieren die Aktualität: «Wir brauchen mehr Leichensäcke. Es gibt keine Särge mehr in der Stadt».
In den schwer umkämpften Städten sind nur noch wenige Journalisten und Journalistinnen vor Ort. Sie berichten über die hässlichste Fratze des Kriegs. Das ist bedrückend – aber die Realität.
Mariupol, die Hafenstadt mit 430'000 Einwohner, hat sich zum Inferno in diesem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gewandelt: Die Zahl der Toten wird auf mindestens 2500 geschätzt.
In den drei Wochen seit Kriegsbeginn waren die zwei Journalisten Mstyslav Chernov und Evgeniy Maloletka von Associated Press (AP) die einzigen internationalen Medienvertreter in Mariupol, die das Auslöschen der einst pulsierenden Stadt mit ihren florierenden Eisen- und Stahlwerken dokumentierten. Nun ist eine weitere Reportage der beiden Journalisten sowie Lori Hinnant erschienen. Sie erzählt von den Massengräbern in Mariupol. Der Bericht ist unmittelbarer als jedes Bild:
Im Anschluss wird Volodymyr Bykovskyi zitiert, der die Leichensäcke in das Massengrab wirft. «Verflucht seien sie alle, diese Leute, die das angefangen haben!» Danach wird von den Leichen erzählt, die die Strassen pflastern und den toten Kindern auf den Fluren der Spitäler.
Mehrere Versuche, sogenannte humanitäre Korridore einzurichten, um die Zivilbevölkerung aus der Stadt zu evakuieren, sind gescheitert. Erst am letzten Mittwoch gelang es etwa 30'000 Menschen in Autokonvois aus den Trümmern der Stadt zu fliehen. Doch für diejenigen, die immer noch in der Stadt gefangen sind, wird die Situation immer prekärer: Die Lebensmittel gehen zur Neige. Der Strom ist grösstenteils ausgefallen und das Wasser ist so spärlich, dass die Menschen Schnee schmelzen, um zu trinken. Das einzige, was in der Stadt reichlich vorhanden sei: Ziegelsteine und Metallscherben, die auf den Strassen lägen, berichten Chernov und Maloletka.
Einige Eltern hätten sogar ihre Neugeborenen in Spitälern zurückgelassen, in der Hoffnung, ihnen an dem einzigen Ort mit vernünftigem Strom und Wasser eine Chance auf Leben zu geben, schreiben Chernov und Maloletka.
Letzte Woche hat die russische Armee eine Geburtsklinik in Mariupol angegriffen. Auch dort waren die Journalisten von AP vor Ort. Maloletka hat dabei ein mittlerweile ikonisches Bild geschossen: Eine Hochschwangere wird auf einer Bahre weggetragen. Sie und ihr Ungeborenes sind mittlerweile verstorben. Der Tod dieser zwei Menschen ist in diesen Tagen nicht aussergewöhnlich: Ein Grossteil der Verstorbenen seien Frauen und Kinder, wie Chernov und Maloletka wissen.
Vor ein paar Tagen suchten Hunderte in einem Theater Schutz. Das Gebäude wurde als zivile Schutzeinrichtung markiert, wie auf Satellitenbildern zu sehen ist: Vor und hinter dem Gebäude ist in grossen Buchstaben das Wort «Kinder» in russischer Sprache auf den Boden geschrieben. Trotzdem warf Putins Armee Bomben ab.
«Warum? Warum? Warum?», schluchzte Marina Yatsko, die Mutter des 18 Monate alten Kirill, auf dem Krankenhausflur, während sie ein letztes Mal ihr Kind küsst.
Die Reportage von Loveday Morris in der «Washington Post» beginnt im Hof eines der vier Leichenschauhäuser der Stadt Charkiw. Dort, wo sich die Leichensäcke türmen. Der dritte Satz des Artikels beschreibt die Toten in den Leichensäcken:
Und danach folgt der eindringlich-verzweifelte Aufruf des Leiters des Leichenschauhauses, Jurij Nikolajewitsch: «Wir brauchen Leichensäcke. Oder zumindest Plastikfolien.» Auch Särge sollen mittlerweile Mangelware sein in der Stadt.
Seit fast drei Wochen erreichen uns Nachrichten, dass Charkiw von der russischen Armee beschossen werde oder dass Raketen und Flugkörper auf die Stadt niederregneten – und in zivile Gebäude einschlügen. Die «Washington Post» berichtet sogar von Streubomben im Stadtzentrum. Schmetterlingsminen sollen die Bevölkerung teilweise an der Flucht aus der Stadt hindern, wie «Euromaiden Press» bereits vier Tage nach Kriegsbeginn, am 28. Februar, berichtete.
Die genaue Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung in Charkiw ist schwer zu beziffern. Seit Beginn des Krieges bestätigte die Polizei von Charkiw 250 getötete Zivilisten, darunter 13 Kinder. Allerdings zählt die Polizei nur diejenigen, die sie selbst dokumentiert. Zu den militärischen Toten veröffentlicht die Ukraine keine Zahlen, die ukrainischen Zahlen über die toten russischen Soldaten lassen sich nicht verifizieren.
Nikolajewitsch sagte der «Washington Post»: «Wir haben keine freien Hände. Wir werden zählen, wenn Ruhe einkehrt.» Aber es lägen mindestens 1125 Leichensäcke im Hof. Doch: Unabhängig von der genauen Zahl der aktuellen Toten sind sich alle einig, dass in den zerbombten Gebäuden noch unzählige weitere Leichen geborgen werden.
(yam)