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Russland

«Warum? Warum? Warum?» – die Toten des Krieges

«Wir brauchen mehr Leichensäcke» – die Toten des Krieges

18.03.2022, 16:5418.03.2022, 17:41
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Krieg hat viele Gesichter. Eine seiner hässlichsten Fratzen ist der meist blutige Tod von Zivilistinnen und Zivilisten, Soldatinnen und Soldaten. Bilder aus den Städten Mariupol und Charkiw zeigen das Ausmass dieses Sterbens in der Ukraine. Berichte der Medienschaffenden vor Ort tradieren die Aktualität: «Wir brauchen mehr Leichensäcke. Es gibt keine Särge mehr in der Stadt».

In den schwer umkämpften Städten sind nur noch wenige Journalisten und Journalistinnen vor Ort. Sie berichten über die hässlichste Fratze des Kriegs. Das ist bedrückend – aber die Realität.

Triggerwarnung
In diesem Artikel geht es um Verstorbene im Ukraine-Krieg. Der Text enthält Bilder mit Leichensäcken, Blut und toten Körpern – aber keine identifizierbaren Gesichter. Bei manchen Menschen können diese Bilder negative Reaktionen, Flashbacks oder Traumata auslösen. Bitte sei achtsam, wenn das bei dir der Fall ist.

Die Bilder müssen jeweils bewusst angeklickt werden. Du kannst den Text also auch «bilderlos» lesen.

Die amerikanische Kriegsreporterin Lynsey Addario hat am 6. März 2022 eine ukrainische Familie fotografiert, die tot am Strassenrand lag. Die Bilder wurden danach unzensiert auf der Frontseite der «New York Times» gedruckt. Nicht erst seit da müssen sich Medien mit der Frage auseinandersetzen: Darf man die Toten des Ukraine-Krieges und ihre Gesichter zeigen?

Auch watson hat sich dieser Debatte gestellt. Im entsprechenden Artikel liess sich Christian Schicha, Medienwissenschaftler und Professor für Medienethik im Deutschen Erlangen, zitieren: «Die wichtigsten Aufgaben von Journalistinnen und Journalisten ist zu zeigen, was passiert.»

Mariupol

Mariupol, die Hafenstadt mit 430'000 Einwohner, hat sich zum Inferno in diesem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gewandelt: Die Zahl der Toten wird auf mindestens 2500 geschätzt.

In den drei Wochen seit Kriegsbeginn waren die zwei Journalisten Mstyslav Chernov und Evgeniy Maloletka von Associated Press (AP) die einzigen internationalen Medienvertreter in Mariupol, die das Auslöschen der einst pulsierenden Stadt mit ihren florierenden Eisen- und Stahlwerken dokumentierten. Nun ist eine weitere Reportage der beiden Journalisten sowie Lori Hinnant erschienen. Sie erzählt von den Massengräbern in Mariupol. Der Bericht ist unmittelbarer als jedes Bild:

«Da ist der 18 Monate alte Kirill, dessen Schrapnellwunde am Kopf zu viel für den Körper des Kleinkindes war. Da ist der 16-jährige Iliya, dessen Beine bei einer Explosion während eines Fussballspiels auf einem Schulhof in die Luft gesprengt wurden. Da ist das Mädchen, das nicht älter als sechs Jahre ist und einen Schlafanzug mit Zeichentrick-Einhörnern trägt, eines der ersten Kinder von Mariupol, das durch eine russische Granate starb.

Sie liegen zusammen mit Dutzenden anderen in diesem Massengrab am Rande der Stadt gestapelt». (...) Die Arbeiter werfen die Leichen so schnell sie können hinein, denn je weniger Zeit sie im Freien verbringen, desto grösser sind ihre eigenen Überlebenschancen.»

Im Anschluss wird Volodymyr Bykovskyi zitiert, der die Leichensäcke in das Massengrab wirft. «Verflucht seien sie alle, diese Leute, die das angefangen haben!» Danach wird von den Leichen erzählt, die die Strassen pflastern und den toten Kindern auf den Fluren der Spitäler.

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Vorsicht – explizite Inhalte: Verstorbene in Mariupol
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Mehrere Versuche, sogenannte humanitäre Korridore einzurichten, um die Zivilbevölkerung aus der Stadt zu evakuieren, sind gescheitert. Erst am letzten Mittwoch gelang es etwa 30'000 Menschen in Autokonvois aus den Trümmern der Stadt zu fliehen. Doch für diejenigen, die immer noch in der Stadt gefangen sind, wird die Situation immer prekärer: Die Lebensmittel gehen zur Neige. Der Strom ist grösstenteils ausgefallen und das Wasser ist so spärlich, dass die Menschen Schnee schmelzen, um zu trinken. Das einzige, was in der Stadt reichlich vorhanden sei: Ziegelsteine und Metallscherben, die auf den Strassen lägen, berichten Chernov und Maloletka.

Einige Eltern hätten sogar ihre Neugeborenen in Spitälern zurückgelassen, in der Hoffnung, ihnen an dem einzigen Ort mit vernünftigem Strom und Wasser eine Chance auf Leben zu geben, schreiben Chernov und Maloletka.

Premature babies who were left behind by their parents lay in a bed in hospital number 3 in Mariupol, Ukraine, Tuesday, March 15, 2022. (AP Photo/Evgeniy Maloletka)
Babys wurden von ihren Eltern in Spitälern zurückgelassen, in der Hoffnung, ihnen an dem einzigen Ort mit vernünftigem Strom und Wasser eine Chance auf Leben zu geben.Bild: keystone

Letzte Woche hat die russische Armee eine Geburtsklinik in Mariupol angegriffen. Auch dort waren die Journalisten von AP vor Ort. Maloletka hat dabei ein mittlerweile ikonisches Bild geschossen: Eine Hochschwangere wird auf einer Bahre weggetragen. Sie und ihr Ungeborenes sind mittlerweile verstorben. Der Tod dieser zwei Menschen ist in diesen Tagen nicht aussergewöhnlich: Ein Grossteil der Verstorbenen seien Frauen und Kinder, wie Chernov und Maloletka wissen.

Vor ein paar Tagen suchten Hunderte in einem Theater Schutz. Das Gebäude wurde als zivile Schutzeinrichtung markiert, wie auf Satellitenbildern zu sehen ist: Vor und hinter dem Gebäude ist in grossen Buchstaben das Wort «Kinder» in russischer Sprache auf den Boden geschrieben. Trotzdem warf Putins Armee Bomben ab.

Das Theater in Mariupol
Auf Satellitenbildern ist zu sehen: Vor und hinter dem Gebäude ist in grossen Buchstaben das Wort «Kinder» in russischer Sprache auf den Boden geschrieben.Bild: keystone/watson

«Warum? Warum? Warum?», schluchzte Marina Yatsko, die Mutter des 18 Monate alten Kirill, auf dem Krankenhausflur, während sie ein letztes Mal ihr Kind küsst.

Charkiw

Die Reportage von Loveday Morris in der «Washington Post» beginnt im Hof eines der vier Leichenschauhäuser der Stadt Charkiw. Dort, wo sich die Leichensäcke türmen. Der dritte Satz des Artikels beschreibt die Toten in den Leichensäcken:

«Einige trugen Hausschuhe, einer hatte Armeestiefel und eine Uniform an. Blasse, blutverschmierte Bäuche hingen zum Himmel hin offen.»

Und danach folgt der eindringlich-verzweifelte Aufruf des Leiters des Leichenschauhauses, Jurij Nikolajewitsch: «Wir brauchen Leichensäcke. Oder zumindest Plastikfolien.» Auch Särge sollen mittlerweile Mangelware sein in der Stadt.

Seit fast drei Wochen erreichen uns Nachrichten, dass Charkiw von der russischen Armee beschossen werde oder dass Raketen und Flugkörper auf die Stadt niederregneten – und in zivile Gebäude einschlügen. Die «Washington Post» berichtet sogar von Streubomben im Stadtzentrum. Schmetterlingsminen sollen die Bevölkerung teilweise an der Flucht aus der Stadt hindern, wie «Euromaiden Press» bereits vier Tage nach Kriegsbeginn, am 28. Februar, berichtete.

Die genaue Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung in Charkiw ist schwer zu beziffern. Seit Beginn des Krieges bestätigte die Polizei von Charkiw 250 getötete Zivilisten, darunter 13 Kinder. Allerdings zählt die Polizei nur diejenigen, die sie selbst dokumentiert. Zu den militärischen Toten veröffentlicht die Ukraine keine Zahlen, die ukrainischen Zahlen über die toten russischen Soldaten lassen sich nicht verifizieren.

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Vorsicht – explizite Inhalte: Verstorbene in Charkiw
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Nikolajewitsch sagte der «Washington Post»: «Wir haben keine freien Hände. Wir werden zählen, wenn Ruhe einkehrt.» Aber es lägen mindestens 1125 Leichensäcke im Hof. Doch: Unabhängig von der genauen Zahl der aktuellen Toten sind sich alle einig, dass in den zerbombten Gebäuden noch unzählige weitere Leichen geborgen werden.

(yam)

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Angriff auf die ukrainische Hafenstadt Mariupol
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Angriff auf die ukrainische Hafenstadt Mariupol
Bei einem Angriff auf die ukrainische Hafenstadt Mariupol wurden am 24. Januar 2015 mindestens 20 Menschen getötet. 86 weitere wurden verletzt.
quelle: epa/epa / sergey vaganov
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36 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Salvatore_M
18.03.2022 17:13registriert Januar 2022
Oh mio dio! Diese Bilder sind unfassbar. Unschuldige Menschen sind betroffen. Und dies widerfährt diesen Menschen im eigenen Land, wo sie in Frieden leben wollen. Dem Putin, diesem Kriegsverbrecher, diesem Unmenschen, darf man diese Taten nicht durchgehen lassen.
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M.Ensch
18.03.2022 17:53registriert März 2020
Putin, was richtest du nur an mit deinem Grössenwahn? Nichts als Elend! Himmeltraurig!
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Lokas
18.03.2022 17:35registriert August 2020
Dass ich nicht mehr Nachrichten von desertierenden russischen Soldaten oder Befehlsverweigerungen höre überrascht mich bei diesen Bildern. Ein Gebäude mit Zivilisten zu beschiessen... mir fehlen die Worte!
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