Das Wichtigste in Kürze:
In der Wirtschaftsmetropole Almaty kam es in der Nacht erneut zu heftigen Krawallen. Demonstranten stürmten trotz Appellen zu einer friedlichen Lösung die Stadtverwaltung und die Residenz des Präsidenten. Danach schien die Lage weiter zu eskalieren. Die Strassen der grössten Stadt Kasachstans seien zum Schlachtfeld geworden, heisst es in diesem Tweet:
The streets of #Almaty have turned into a battlefield. A large number of deaths are reported in the clashes.#Kazakhstan
— 🇵🇹 𝙈𝙤𝙙𝙚𝙧𝙣 𝙀𝙧𝙖 𝙉𝙚𝙬𝙨 🇪🇺 (@ModernEraNews) January 5, 2022
pic.twitter.com/bJiYgbtc6o
Die Nachrichtenagentur Tengrinews veröffentlichte Videos, die Flammen am Sitz der Verwaltung zeigten. Schwarzer Rauch stieg auf. Es waren immer wieder Knallgeräusche zu hören. Feuer sollen auch in anderen öffentlichen Einrichtungen ausgebrochen sein.
#Kazakhstan 🇰🇿: smoke rises from several sides of the city administration in #Almaty as hundreds of protesters are storming the building pic.twitter.com/TwlfryVSiY
— Thomas van Linge (@ThomasVLinge) January 5, 2022
Es brannte zudem in der Residenz von Präsident Kassym-Jomart Tokajew. Demonstranten zerstörten Fenster mehrerer Gebäude und zündeten Autos an.
Kasachischen Behördenangaben zufolge sind bereits mindestens acht Polizisten und Soldaten getötet worden. Mehrere kasachische Telegram-Kanäle veröffentlichten in der Nacht zum Donnerstag Videos, die militärisches Vorgehen gegen Demonstranten auch im Stadtgebiet der Wirtschaftsmetropole Almaty zeigen sollen.
Bei den Protesten im zentralasiatischen Kasachstan sind in der Stadt Almaty offiziellen Angaben zufolge 13 Sicherheitskräfte getötet worden. Zwei Leichen seien geköpft aufgefunden worden, berichteten kasachische Medien am Donnerstag unter Berufung auf das Staatsfernsehen. Klare offizielle Angaben zu möglichen zivilen Todesopfern gab es weiter nicht.
Am Mittwoch hatten die Behörden von 8 toten Polizisten und Soldaten gesprochen. Bei den Unruhen wurden demnach landesweit mehr als 1000 Menschen verletzt. 400 Menschen seien in Krankenhäuser gebracht worden, 62 seien auf Intensivstationen. Die kasachische Polizei sprach davon, bei nächtlichen Zusammenstössen zwischen Demonstranten und Militär in Almaty «Dutzende Angreifer eliminiert» zu haben, was Todesopfer bedeuten könnte. Berichte können von unabhängiger Seite nur schwer geprüft werden.
Bei den Protesten in Kasachstan sind nach offiziellen Angaben der Behörden allein in der Millionenstadt Almaty etwa 2000 Menschen festgenommen worden.
Die Festnahmen dauerten an, teilte die Polizei des zentralasiatischen Landes am Donnerstag nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Tengrinews mit. Unklar war zunächst, wie viele Menschen landesweit in Gewahrsam genommen wurden.
Präsident Kassym-Jomart Tokajew warnte in einer Ansprache vor Aufrufen zu Gewalt: «Die Situation bedroht die Sicherheit aller Bürger von Almaty. Das kann nicht toleriert werden.» Die Sicherheitskräfte würden «so hart wie möglich» vorgehen. Gleichzeitig kündigte Tokajew Preissenkungen an, womit die «Stabilität des Landes gewährleistet werden soll».
Für die Demonstrierenden war dies allerdings nicht genug – sie forderten zudem den Rücktritt der Regierung. So zog sich Regierungschef Askar Mamin unter dem Druck der Öffentlichkeit schliesslich zurück. Damit trete auch die Regierung zurück, teilte das Präsidialbüro mit. Als Konsequenz davon übernahm der bisherige Vize-Regierungschef Älichan Smajylow die Amtsgeschäfte.
Gemäss Experten scheint es so, als könne sich Tokajew nicht mehr auf seine Armee verlassen, weshalb nun ein von Russland geführtes Militärbündnis einschreitet. So habe die Polizei in Aktobe, im Westen Kasachstans, gemäss dieses Tweets verlauten lassen, dass sie nicht gegen die Protestierenden vorgehen werde:
In #Aktobe, west #Kazakhstan, the police reportedly announced that it would not be acting against the protesters:
— Alex Kokcharov (@AlexKokcharov) January 5, 2022
pic.twitter.com/qQkeeUprIe
Die «Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit» (OVKS) werde auf Anfrage Kasachstans Friedenstruppen schicken, verkündete der armenische Premierminister Nikol Paschinjan in der Nacht zum Donnerstag über Facebook. Neben Russland, Kasachstan, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan ist Armenien ebenfalls Mitglied in dem Militärbündnis. Die Soldaten sollten für einen begrenzten Zeitraum entsandt werden, «um die Lage in dem Land zu stabilisieren und zu normalisieren».
Der für Angelegenheiten ehemaliger Sowjetrepubliken zuständige Ausschussvorsitzende der russischen Staatsduma, Leonid Kalaschnikow, hatte bereits Unterstützung signalisiert. Russland sei zur Hilfe verpflichtet, dafür sei das Bündnis gegründet worden, sagte er der russischen Nachrichtenagentur Interfax.
Angesichts der Unruhen in Kasachstan hat Russland Soldaten in das zentralasiatische Land verlegt. Es seien Fallschirmjäger als Teil einer Friedenstruppe entsandt worden, teilte die Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit am Donnerstag mit. Kasachstan hatte das von Russland geführte Militärbündnis zuvor um Hilfe gebeten. Dem Bündnis gehören neben Russland und Kasachstan auch Armenien, Belarus, Kirgistan und Tadschikistan an. Auch diese Staaten hätten Streitkräfte nach Kasachstan entsandt, hiess es.
Bereits in der Nacht hatte das Militärbündnis erklärt, einem Hilfegesuch Kasachstans nachkommen zu wollen. Der armenische Premierminister Nikol Paschinjan schrieb bei Facebook, die Soldaten sollten für einen begrenzten Zeitraum entsandt werden, «um die Lage in dem Land zu stabilisieren und zu normalisieren». In der Mitteilung hiess es nun, eine Hauptaufgabe der ausländischen Soldaten sei der Schutz wichtiger staatlicher und militärischer Einrichtungen.
Es ist das erste Mal in der 30-jährigen Geschichte der OVKS, dass diese eingreift und militärische Truppen aussendet. Frühere Anträge um Unterstützung (beispielsweise durch Armenien) wurden oft mit der Begründung abgewiesen, dass es sich im entsprechenden Land um interne Konflikte handle.
Der jetzige Einsatz in Kasachstan stütze sich auf Artikel 4 der OVKS Charta, wo es heisst:
Gemäss dieses Tweets soll in der Nacht in Almaty ein Anti-Terroristen-Einsatz begonnen haben.
#Kazakhstan It's almost 2:30 am in Almaty now. An "anti-terrorist operation" began in the city. You can hear sirens and announcements of evacuation. Eyewitnesses say the shooting is heard. It is confirmed by videos from the ground. I am really hoping everyone remains safe there. pic.twitter.com/2jYpmFKUuz
— Hanna Liubakova (@HannaLiubakova) January 5, 2022
Gemäss der unabhängigen Nachrichtenorganisation Eurasianet gebe es aber keine Anzeichen dafür, dass die Volksunruhen in Kasachstan einen externen Ursprung hätten. Stattdessen seien die Proteste aufgrund abrupt gestiegener Gaspreise ausgebrochen. Das kasachische Aussenministerium erklärte am Morgen des 6. Januar dennoch, dass sich Kasachstan einer bewaffneten Aggression durch terroristische Gruppen ausgesetzt sehe, die ausserhalb des Landes ausgebildet worden seien. Entsprechend sei auch der Einsatz der OVKS nötig, so Tokajew.
Dieser Entscheid beunruhigt allerdings viele Kasachinnen und Kasachen. So auch Nargis Kassenowa, Politikwissenschaftlerin an der Harvard Universität. Auf Twitter schreibt sie:
Tokayev called for the CSTO help - horrible decision!! We don't know what the situation with the Kaz military/security services is at the moment, what the level of confusion and the situation with loyalty are, but this appeal undermines his chance to gain legitimacy big time. https://t.co/7PYdcvVOfV
— Nargis Kassenova (@KassenovaNargis) January 5, 2022
Inmitten der eskalierenden Proteste scheint die Regierung dem Internet erneut den Stecker gezogen zu haben. Die Webseiten des Präsidialamts und anderer Regierungsbehörden waren in der Nacht zu Donnerstag ebenso wenig zu erreichen wie jene von Flughäfen und Polizeibehörden, wie die russische Staatsagentur Tass berichtete. In der Millionenstadt Almaty herrschte laut Tass ein kompletter Internetausfall, soziale Netzwerke als zentrales Koordinierungsinstrument von Demonstranten waren damit lahmgelegt. Auch das Mobilfunknetz in der Wirtschaftsmetropole war demnach tot.
Bereits am Mittwoch war das Internet in dem autoritär regierten Land über Stunden abgeschaltet gewesen – vermutlich, um neue Versammlungen zu erschweren. Mehrere Fernsehsender stellten den Betrieb ein.
Grund für die Proteste sind die deutlich gestiegenen Preise für Flüssiggas an den Tankstellen, nachdem die Preisobergrenze aufgehoben worden war. Zudem machen die Demonstrierenden die Regierung für ihre schlechte Lebenslage verantwortlich, weil der Alltag wegen hoher Inflation teurer geworden ist. Bereits in der Nacht zuvor ist es zu heftigen Zusammenstössen zwischen Demonstrierenden und Sicherheitskräften gekommen. Den Behörden zufolge wurden dabei 190 Menschen verletzt, darunter 137 Polizisten. 40 Menschen seien in Krankenhäuser gebracht worden.
In #Kazakhstan, thousands flocked to the streets to protest rising fuel prices & a collapsing economy. Hours later, the Kazakh govt resigned. Take a look.pic.twitter.com/ys8UFkYr6M
— Steve Hanke (@steve_hanke) January 5, 2022
Auch in anderen Städten des ölreichen Landes gingen die Menschen auf die Strasse. Landesweit gab es bis Mittwochmorgen dem Innenministerium zufolge 200 Festnahmen, wobei diese Zahl wohl noch steigen wird. Der Protest begann am Wochenende zunächst in der Stadt Schangaösen im Westen und weitete sich dann aus. Es ist die grösste Protestwelle seit Jahren.
Das US-Aussenministerium hat Sicherheitskräfte und Demonstranten im zentralasiatischen Kasachstan zur Mässigung aufgerufen und eine friedliche Beilegung des Konflikts gefordert. «Wir bitten alle Kasachen, die verfassungsmässigen Institutionen, die Menschenrechte und die Pressefreiheit inklusive einer Wiederherstellung des Internetzugangs zu respektieren und zu verteidigen», erklärte der Sprecher des Ministeriums, Ned Price, am Mittwoch. Die USA forderten alle Parteien dringend auf, angesichts des Ausnahmezustands eine friedliche Lösung zu finden, so Price.
Auch die EU hat sich besorgt geäussert und die Staatsführung zur Einhaltung von internationalen Verpflichtungen aufgerufen. «Die Europäische Union fordert die Behörden auf, das Grundrecht auf friedlichen Protest zu achten», teilte eine Sprecherin des Auswärtigen Dienstes am Mittwoch in Brüssel mit. Zudem müsse die Anwendung von Gewalt zur Verteidigung von legitimen Sicherheitsinteressen verhältnismässig erfolgen und die Pressefreiheit und der Zugang zu Informationen gewährleistet werden. Von den Demonstranten erwarte die EU, dass diese friedlich protestierten und nicht zu Gewalt anstachelten.
(saw) Mit Material des Nachrichtenagentur sda.
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