Der deutsche Wirtschaftsminister schlägt Alarm, und das im wahrsten Sinne des Wortes. Am Donnerstag aktivierte Robert Habeck die Alarmstufe im Notfallplan Gas. «Gas ist von nun an ein knappes Gut in Deutschland», sagte der Grünen-Politiker. Direkte Folgen hat diese Massnahme nicht. Die Versorgungssicherheit sei derzeit gewährleistet, sagte Habeck.
Der Minister rief Firmen und Konsumenten zum Gassparen auf. Denn in Deutschland und im übrigen Europa wächst die Furcht vor einem «sehr schwierigen Winter», wie der irische Premierminister Micheál Martin am Freitag beim EU-Gipfel in Brüssel erklärte. Am stärksten betroffen ist Deutschland, die grösste Volkswirtschaft in der Europäischen Union.
Grund für die Ausrufung der Alarmstufe ist die Drosselung der Gasexporte aus Russland. Der Staatskonzern Gazprom liefert seit rund einer Woche nur etwa 40 Prozent der üblichen Menge. Begründet wird dies mit verzögerten Reparaturarbeiten an der Ostsee-Pipeline Nord Stream 1 als Folge der westlichen Sanktionen wegen des Überfalls auf die Ukraine.
Politische Motive für die Reduktion wies Kreml-Sprecher Dmitri Peskow am Donnerstag zurück. Im Westen glaubt dies kaum jemand. Wladimir Putin halte den Gaspreis hoch, um Unsicherheit und Angst zu schüren – «der beste Nährboden für einen Populismus, der unsere liberale Demokratie von innen aushöhlen soll», sagte Robert Habeck im Interview mit dem «Spiegel».
Illusionen macht sich der Vizekanzler nicht: «Es wird auf jeden Fall knapp im Winter.» Denn die deutschen Gasspeicher sind derzeit zu etwa 60 Prozent gefüllt. Um halbwegs unbeschadet durch die kalte Jahreszeit zu kommen, müssten die Speicher jedoch voll sein. Und auch dann gibt es «Stolpersteine», etwa tiefere Temperaturen als üblich.
Deutschland stellt sich auf schwierige Monate ein. Nun rächt sich die Abhängigkeit von russischen Energielieferungen. Während sie bei Kohle und Öl seit dem Ukraine-Krieg deutlich reduziert werden konnte, bleibt sie beim Gas vergleichsweise hoch. Alternativen lassen sich nicht leicht finden, auch wegen fehlender Terminals für Flüssiggas (LNG).
Der Wirtschaftsminister geht von weiter steigenden Preisen aus. Sie könnten sich im schlimmsten Fall verdreifachen, was die Wirtschaft in eine Rezession stürzen und die privaten Verbraucher enorm belasten würde. Die Regierung werde Menschen mit niedrigen Einkommen entlasten, die «jeden Cent zweimal umdrehen müssen», versprach Habeck.
Er forderte die Haushalte zum Energiesparen auf, etwa indem sie die Heizung runterdrehen oder weniger lange duschen. Die Werbekampagne des Wirtschaftsministeriums für Energiespar-Duschköpfe sorgte teilweise für spöttische Reaktionen. Die Industrie soll mit einem Auktionsmodell Anreize erhalten, um ihren Gasverbrauch zu reduzieren.
Habeck will auch bei den Gaskraftwerken zur Stromerzeugung ansetzen, die den Atom- und Kohleausstieg überbrücken sollten. Nun sollen einige Kohlekraftwerke wieder hochgefahren werden. Der Vizekanzler, der auch die Bezeichnung Klimaschutzminister trägt, bezeichnete die Entscheidung im «Spiegel»-Interview selbst als «erbärmlich».
Bei den Klimazielen mache Deutschland «jetzt erst mal leider einen halben Schritt zurück», sagte Habeck. Von einer längeren Laufzeit der drei letzten Atomkraftwerke, die Ende Jahr vom Netz gehen sollen, will er nichts wissen, wegen angeblich fehlender Brennstäbe. Es gibt in dieser Hinsicht jedoch Druck von der CDU und auch vom Koalitionspartner FDP.
Die deutsche Gaskrise wird sich auch auf die Schweiz auswirken. Zwar spielt Gas bei der Stromerzeugung kaum eine Rolle, aber auch unser Land ist darauf angewiesen, für Heizungen und die Industrie. Es kommt fast zur Hälfte aus Russland, wenn auch indirekt. Und im Gegensatz zu Deutschland hat die Schweiz keine Gasspeicher.
Sie ist auch im Winter vom Ausland abhängig. Energieministerin Simonetta Sommaruga und Wirtschaftsminister Guy Parmelin vereinbarten am WEF in Davos mit Robert Habeck Verhandlungen über ein Solidaritätsabkommen. Im Hinblick auf den kommenden Winter aber besteht keine Garantie, dass der Schweiz nicht plötzlich der Gashahn zugedreht wird.
«Die Sorge ist gross», sagte Jean-Philippe Kohl vom Industrieverband Swissmem im Interview mit «CH Media». Eine Unterbrechung der Gasversorgung hätte «einen immensen Schaden für die Industrieunternehmen zur Folge». Der Bundesrat müsse «jetzt auf den drohenden Gasengpass aufmerksam machen und zum Energiesparen aufrufen».
Als Vorbild nannte Kohl den deutschen Wirtschaftsminister, der «die Realität anspricht und an die Bevölkerung appelliert». Tatsächlich ist Robert Habeck der derzeit beliebteste deutsche Politiker, obwohl oder gerade weil er kein Blatt vor den Mund nimmt und die Probleme offen und in einer bildhaften, verständlichen Sprache anspricht.
Seine kommunikativen Fähigkeiten werden auch in den nächsten Monaten gefordert sein. Gleichzeitig muss er die Abhängigkeit vom russischen Gas weiter reduzieren. Seit Mai wird in Wilhelmshaven ein LNG-Terminal gebaut. Die Gaskrise wird auch Thema sein am G7-Gipfel ab Sonntag im bayerischen Elmau, mit Bundeskanzler Olaf Scholz als Gastgeber.