International
Schweiz

Messerattacke in Solingen: Parlamentarier über Islamismus in der Schweiz

23.08.2024, Nordrhein-Westfalen, Solingen: Polizei und Rettungswagen stehen in der N
Die Polizei stand in Solingen mit einem Grossaufgebot im Einsatz.Bild: keystone

SP-Molina nach Messerattacke: «Ausländerfeindliche Parolen sind billiger Populismus»

Die tödliche Messerattacke von Solingen beschäftigt auch die Schweizer Politik. Dass auch hierzulande ein Problem mit radikalisierten Personen besteht, darin sind sich vier angefragte Parlamentarier einig. Bei den Lösungsansätzen gehen die Meinungen jedoch weit auseinander.
27.08.2024, 04:5327.08.2024, 12:29
Ralph Steiner
Mehr «International»

Der Schock sitzt tief im westdeutschen Solingen. Das Stadtfest, das dieses Wochenende als «Festival der Vielfalt» das 650-jährige Bestehen von Solingen hätte feiern sollen, wurde jäh gestoppt.

Am Freitagabend hat der 26-jährige syrische Flüchtling Issa al-H. mit einem Messer mutmasslich drei Menschen getötet und mindestens acht weitere zum Teil schwer verletzt. Der Mann habe sein Messer wie eine Machete herumgeschwungen, erzählt der Hauptorganisator dem Tages-Anzeiger. Weiter heisst es, er habe hinterrücks und gezielt auf den Hals- und Oberkörperbereich von Festivalbesuchern eingestochen.

epa11565094 (L-R) Interior Minister of the State of North Rhine-Westphalia Herbert Reul, North Rhine-Westphalia state premier Hendrik Wuest, German Chancellor Olaf Scholz, Solingen Major Tim Kurzbach  ...
Bundeskanzler Olaf Scholz legt in Gedenken an die Opfer der Messerattacke Blumen nieder. Bild: keystone

Einen Tag nach der Tat hat sich der Syrer der Polizei gestellt. Er ist geständig. Die syrische Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) reklamiert die Messerattacke für sich. Der 26-Jährige habe das Attentat ausgeübt, um Rache für Muslime in Palästina und weiteren Orten zu nehmen.

Wie üblich wird nach Attacken dieser Art sogleich über mögliche Konsequenzen diskutiert. Der Brandenburger Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) fordert ein Messerverbot. Er sagte:

«Messer, gerade wenn sie zum Verletzen anderer hergestellt sind, gehören auf der Strasse verboten.»

Dieser Forderung kann SVP-Politiker Benjamin Fischer wenig abgewinnen. Im Gegenteil: «Ein Messerverbot ist ein völlig absurder Schwachsinn. Die Forderung nach einem solchen Verbot zeigt lediglich, wie überfordert und verzweifelt die deutsche Politik ist.»

Benjamin Fischer, SVP-ZH, spricht zur Grossen Kammer, an der Wintersession der Eidgenoessischen Raete, am Donnerstag, 1. Dezember 2022 im Nationalrat in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Benjamin Fischer (SVP) hält nichts von einem Messerverbot.Bild: keystone

Fischer argumentiert, dass sich ein Attentäter wohl kaum an eine solche Regel halten würde:

«Menschen, die mit Messern auf andere einstechen, interessieren sich als Allerletztes für irgendein Verbot.»

Geht es nach SP-Nationalrat Fabian Molina, sind sowohl ein Messer-Register als auch ein Verbot gewisser Messer vertieft zu prüfen. Die Verbreitung von gefährlichen Messern und die damit verübten Verbrechen nähmen immer mehr zu. «Zu Recht warnen die kantonalen und kommunalen Polizei-Korps hierzulande vor den damit verbundenen Gefahren.»

Nationalrat Fabian Molina, SP-ZH, spricht waehrend einem Point de Presse der SP Schweiz zum "Milliarden-Finanzdebakel" bei der Armee, am Freitag, 2. Februar 2024 im Bundeshaus in Bern. (KEYS ...
Ein Verbot von Messern sei zu prüfen, sagt Fabian Molina von der SP.Bild: keystone

Algorithmen begünstigen Radikalisierung

Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey verortet das Problem der Radikalisierung von Tätern wie demjenigen von Solingen auch im Internet – insbesondere bei jungen Menschen. «Algorithmen auf Social Media sind enorme Radikalisierungs-Beschleuniger.» Andrey präzisiert:

«Gelangt man in einen solchen Sog, kann dies süchtig machen und regelrecht aufpeitschen.»
Der Gruene Nationalrat Gerhard Andrey, FR, kommentiert seine Kandidatur fuer den Bundesrat, am Freitag, 10. November 2023 in Bern. (KEYSTONE/Alessandro della Valle)
Algorithmen auf Social Media seien eine der Ursachen für radikales Verhalten, so Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey.Bild: keystone

Anstelle von schwierig durchzusetzenden Messerverboten sei es zielführender, Jugendliche vor radikalisierenden Inhalten auf Social Media zu schützen.

Bei der Plattform X sei die Europäische Union bereits aktiv geworden, so Andrey. Das sei wichtig. «Es kann nicht sein, dass nur wegen des sehr einträglichen Werbegeschäfts solcher Plattformen unsere ganze Gesellschaft radikalisiert wird und so Terrorismus nährt.»

Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller appelliert ebenfalls an mehr Restriktionen im digitalen Raum:

«Gewisse soziale Medien, welche eine Art Brutstätte des IS oder anderer extremer Bewegungen sind, müssen eingeschränkt werden können.»
Marianne Binder-Keller, Mitte-AG, Staenderatskandidatin und Nationalraetin am Point de Presse zum zweiten Wahlgang der Aargauer Staenderatswahl, fotografiert am Sonntag, 19. November 2023 in Aarau. (K ...
Marianne Binder-Keller (Mitte) fordert eine stärkere Überwachung von sozialen Netzwerken.Bild: keystone

Für SVP-Nationalrat Benjamin Fischer hingegen liegt die Ursache für das Attentat in Solingen in der zu laschen Migrationspolitik. In diesem Fall derjenigen der deutschen Behörden.

«Bei dieser Messerattacke handelt es sich um ein islamistisches Attentat, ausgeübt durch einen Syrer, der bereits hätte ausgeschafft werden müssen. Die Ausschaffung wurde jedoch nicht vollzogen, daher liegt die Schuld bei den Behörden», so Fischer.

Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller sieht die Sachlage ähnlich und hält fest:

«Nicht das Messer tötet, sondern die Person, die es hält, und deshalb ist das Problem grundlegend.»

Auch sie betont, dass die deutschen Behörden Issa al-H. bereits hätten abschieben sollen.

Issa al-H. durfte in Deutschland bleiben

Tatsächlich hätte Issa al-H., der mutmassliche Täter von Solingen, gemäss Medienberichten längst ausgewiesen werden sollen. Nach Regeln des europäischen Asylsystems wäre Bulgarien als Ersteinreiseland in der EU für den Syrer zuständig gewesen.

Als man ihn im vergangenen Sommer nach Bulgarien ausweisen wollte, tauchte der Syrer unter. Ende 2023 habe Issa al-H. von Deutschland dann subsidiären Schutz erhalten. Bis zuletzt lebte er in einer Flüchtlingsunterkunft in Solingen, nur wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt.

Subsidiärer Schutz
Eine Person erhält subsidiären Schutz, wenn sie zwar nicht wie ein Asylberechtigter oder Flüchtling aus bestimmten Gründen verfolgt wird, ihr aber trotzdem in ihrer Heimat ein ernsthafter Schaden durch schwere Menschenrechtsverletzungen droht. Subsidiär Schutzberechtigte haben einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, die zunächst für ein Jahr ausgestellt wird. Wenn sich die Situation in dem Herkunftsland in dieser Zeit nicht verbessert, wird die Aufenthaltserlaubnis für weitere zwei Jahre verlängert.

Auf einer sogenannten Gefährderliste, die Personen auflistet, denen islamistische Anschläge zugetraut werden, figurierte Issa al-H. nicht. Zudem sei er weder den Behörden in Nordrhein-Westfalen noch den zuständigen Bundesbehörden als Straftäter oder Extremist bekannt gewesen.

25.08.2024, Baden-W
Der mutmassliche Täter auf dem Weg zum Ermittlungsrichter des Bundesgerichtshofs.Bild: keystone

Die Gefahr einer Radikalisierung bestehe sowohl für Menschen mit als auch ohne Migrationshintergrund, so Gerhard Andrey von den Grünen. Nach Attacken dieser Art generell einen Zusammenhang zwischen radikalem Gedankengut und Migranten herzustellen, greife «zu kurz» und sei «eine gefährliche Haltung».

Einzelfälle wie das Attentat in Solingen seien dramatisch, grauenhaft und absolut inakzeptabel, so Andrey weiter. Aber: «Daraus eine migrationsfeindliche Politik beliebt machen zu wollen, ist populistisch.»

Die Lage in der Schweiz

Auch in der Schweiz ist es dieses Jahr zu einer islamistisch motivierten Messerattacke gekommen. Im März hat ein 15-jähriger Schweizer mit tunesischen Wurzeln in Zürich einen orthodoxen Juden angegriffen und ihn dabei schwer verletzt. Das 50-jährige Opfer hat das Attentat überlebt, musste aber zunächst intensiv betreut werden.

Gemäss dem jüngsten Sicherheitsbericht des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) gilt für die Schweiz die Terrorgefahr derzeit als «erhöht». Aktuell befinden sich gemäss der SonntagsZeitung 47 Personen auf der Risikoliste des NDB. Es handelt sich dabei um Personen, «die den Terrorismus unterstützen oder dazu ermutigen».

Benjamin Fischer und die SVP verlangen, dass die Schweiz gegen potenzielle Gefährder konsequent vorgeht. Der «Islamische Staat» habe seit Längerem zu Messerattacken aufgerufen, die zunehmende Radikalisierung sei auch in der Schweiz beobachtbar. «Wenn wir jedoch fordern, dass man verdächtige Menschen gezielt durchsucht, kommen irgendwelche Idioten und reden von Racial Profiling», so Fischer.

Marianne Binder-Keller warnt davor, dass die Schweiz durch die Toleranz von intoleranten Kräften ihre Grundwerte abschaffe. Deswegen müssten potenzielle Täter «viel konsequenter auf rechtsstaatsfeindliches Gedankengut geprüft werden». Zudem seien die Mittel für die Sicherheit aufzustocken, so die Mitte-Ständerätin.

Eine konträre Ansicht vertritt Fabian Molina. In der Schweiz radikalisierten sich Jugendliche unabhängig der Nationalität, darunter auch viele mit Schweizer Pass, so der SP-Nationalrat. Molina argumentiert:

«Wir müssen dem Islamismus den Nährboden entziehen und gegen Radikalisierung vorgehen. Ausländerfeindliche Parolen nach Solingen sind billiger Populismus.»

Gegenüber der SonntagsZeitung gab die Bundesanwaltschaft (BA) bekannt, dass die Anzahl Fälle im Bereich Terrorismus in den letzten Jahren «markant zugenommen» habe. Derzeit seien in der Schweiz gemäss BA rund 100 Verfahren im Zusammenhang mit radikalem Islamismus hängig, es gehe dabei um Delikte wie Propagandaverbreitung und Terrorfinanzierung.

Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft sagte: «Dies zeigt, dass das Phänomen des dschihadistisch motivierten Terrorismus in der Schweiz mitnichten verschwunden, sondern nach wie vor sehr präsent ist.»

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Pottwal in Zürich gestrandet
1 / 11
Pottwal in Zürich gestrandet
Am Utoquai am Zürcher Seeufer liegt seit Montagmorgen, dem 19. August, ein Pottwal.
quelle: watson
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Sturzflut reisst im Grand Canyon Wanderin in den Tod
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
667 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
frog77
27.08.2024 05:38registriert Dezember 2016
Auch bei uns das zu erwartende schöngerede von links. Diesen Politikern ist nicht mehr zu helfen und wenn die nicht bald die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung respektieren, statt vor lauter politischer Korrektheit das Problem schönzureden, werden wir früher oder später Bewegungen in Europa haben, die das Recht selber und auf andere Art in die Hand nehmen.
645106
Melden
Zum Kommentar
avatar
001284.570128c4@apple
27.08.2024 05:51registriert März 2024
Alles klar, SP kriegt meine Stimme nicht mehr, genau so aussagen sind es wo man sich wirklich fragt ob diese Leute (in dem Fall Politiker) in der gleichen Welt leben oder denken wir sind so doof.
55584
Melden
Zum Kommentar
avatar
Rr CC
27.08.2024 05:44registriert Juni 2023
Recht haben eigentlich alle angefragten Partei-Exponenten. Bei einem der vier kommt allerdings hinzu, dass er es nicht lassen kann, in dieser Situation gegen den politischen Gegner auszuteilen. Dies lässt mich stark an Fabian Molinas Interesse zweifeln, das offensichtlich bestehende Problem zu lösen.
45054
Melden
Zum Kommentar
667
Getrennt oder zusammen? Weshalb die Besteuerung von Ehepaaren ein Krimi ist
Sollen Ehepaare getrennt oder gemeinsam besteuert werden? Bei dieser Frage geht es weniger um Steuern als um Gesellschaftspolitik – und für einmal auch nicht um links oder rechts. Einblicke in ein umstrittenes Steuergeschäft.

Irgendeinmal ging es dem Publikum im Nationalratssaal wie der Hochzeitsgesellschaft beim Dia-Vortrag des Schwiegervaters: Das war ja alles ganz interessant und mitunter sogar unterhaltsam – doch irgendeinmal wiederholten sich die Sujets und auch die Pointen. Nicht weniger als 68 Rednerinnen und Redner hatten sich eingetragen, um für oder gegen die Individualbesteuerung zu referieren.

Zur Story