Der Schock sitzt tief im westdeutschen Solingen. Das Stadtfest, das dieses Wochenende als «Festival der Vielfalt» das 650-jährige Bestehen von Solingen hätte feiern sollen, wurde jäh gestoppt.
Am Freitagabend hat der 26-jährige syrische Flüchtling Issa al-H. mit einem Messer mutmasslich drei Menschen getötet und mindestens acht weitere zum Teil schwer verletzt. Der Mann habe sein Messer wie eine Machete herumgeschwungen, erzählt der Hauptorganisator dem Tages-Anzeiger. Weiter heisst es, er habe hinterrücks und gezielt auf den Hals- und Oberkörperbereich von Festivalbesuchern eingestochen.
Einen Tag nach der Tat hat sich der Syrer der Polizei gestellt. Er ist geständig. Die syrische Terrormiliz «Islamischer Staat» (IS) reklamiert die Messerattacke für sich. Der 26-Jährige habe das Attentat ausgeübt, um Rache für Muslime in Palästina und weiteren Orten zu nehmen.
Wie üblich wird nach Attacken dieser Art sogleich über mögliche Konsequenzen diskutiert. Der Brandenburger Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) fordert ein Messerverbot. Er sagte:
Dieser Forderung kann SVP-Politiker Benjamin Fischer wenig abgewinnen. Im Gegenteil: «Ein Messerverbot ist ein völlig absurder Schwachsinn. Die Forderung nach einem solchen Verbot zeigt lediglich, wie überfordert und verzweifelt die deutsche Politik ist.»
Fischer argumentiert, dass sich ein Attentäter wohl kaum an eine solche Regel halten würde:
Geht es nach SP-Nationalrat Fabian Molina, sind sowohl ein Messer-Register als auch ein Verbot gewisser Messer vertieft zu prüfen. Die Verbreitung von gefährlichen Messern und die damit verübten Verbrechen nähmen immer mehr zu. «Zu Recht warnen die kantonalen und kommunalen Polizei-Korps hierzulande vor den damit verbundenen Gefahren.»
Grünen-Nationalrat Gerhard Andrey verortet das Problem der Radikalisierung von Tätern wie demjenigen von Solingen auch im Internet – insbesondere bei jungen Menschen. «Algorithmen auf Social Media sind enorme Radikalisierungs-Beschleuniger.» Andrey präzisiert:
Anstelle von schwierig durchzusetzenden Messerverboten sei es zielführender, Jugendliche vor radikalisierenden Inhalten auf Social Media zu schützen.
Bei der Plattform X sei die Europäische Union bereits aktiv geworden, so Andrey. Das sei wichtig. «Es kann nicht sein, dass nur wegen des sehr einträglichen Werbegeschäfts solcher Plattformen unsere ganze Gesellschaft radikalisiert wird und so Terrorismus nährt.»
Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller appelliert ebenfalls an mehr Restriktionen im digitalen Raum:
Für SVP-Nationalrat Benjamin Fischer hingegen liegt die Ursache für das Attentat in Solingen in der zu laschen Migrationspolitik. In diesem Fall derjenigen der deutschen Behörden.
«Bei dieser Messerattacke handelt es sich um ein islamistisches Attentat, ausgeübt durch einen Syrer, der bereits hätte ausgeschafft werden müssen. Die Ausschaffung wurde jedoch nicht vollzogen, daher liegt die Schuld bei den Behörden», so Fischer.
Mitte-Ständerätin Marianne Binder-Keller sieht die Sachlage ähnlich und hält fest:
Auch sie betont, dass die deutschen Behörden Issa al-H. bereits hätten abschieben sollen.
Tatsächlich hätte Issa al-H., der mutmassliche Täter von Solingen, gemäss Medienberichten längst ausgewiesen werden sollen. Nach Regeln des europäischen Asylsystems wäre Bulgarien als Ersteinreiseland in der EU für den Syrer zuständig gewesen.
Als man ihn im vergangenen Sommer nach Bulgarien ausweisen wollte, tauchte der Syrer unter. Ende 2023 habe Issa al-H. von Deutschland dann subsidiären Schutz erhalten. Bis zuletzt lebte er in einer Flüchtlingsunterkunft in Solingen, nur wenige Hundert Meter vom Tatort entfernt.
Auf einer sogenannten Gefährderliste, die Personen auflistet, denen islamistische Anschläge zugetraut werden, figurierte Issa al-H. nicht. Zudem sei er weder den Behörden in Nordrhein-Westfalen noch den zuständigen Bundesbehörden als Straftäter oder Extremist bekannt gewesen.
Die Gefahr einer Radikalisierung bestehe sowohl für Menschen mit als auch ohne Migrationshintergrund, so Gerhard Andrey von den Grünen. Nach Attacken dieser Art generell einen Zusammenhang zwischen radikalem Gedankengut und Migranten herzustellen, greife «zu kurz» und sei «eine gefährliche Haltung».
Einzelfälle wie das Attentat in Solingen seien dramatisch, grauenhaft und absolut inakzeptabel, so Andrey weiter. Aber: «Daraus eine migrationsfeindliche Politik beliebt machen zu wollen, ist populistisch.»
Auch in der Schweiz ist es dieses Jahr zu einer islamistisch motivierten Messerattacke gekommen. Im März hat ein 15-jähriger Schweizer mit tunesischen Wurzeln in Zürich einen orthodoxen Juden angegriffen und ihn dabei schwer verletzt. Das 50-jährige Opfer hat das Attentat überlebt, musste aber zunächst intensiv betreut werden.
Gemäss dem jüngsten Sicherheitsbericht des Nachrichtendienstes des Bundes (NDB) gilt für die Schweiz die Terrorgefahr derzeit als «erhöht». Aktuell befinden sich gemäss der SonntagsZeitung 47 Personen auf der Risikoliste des NDB. Es handelt sich dabei um Personen, «die den Terrorismus unterstützen oder dazu ermutigen».
Benjamin Fischer und die SVP verlangen, dass die Schweiz gegen potenzielle Gefährder konsequent vorgeht. Der «Islamische Staat» habe seit Längerem zu Messerattacken aufgerufen, die zunehmende Radikalisierung sei auch in der Schweiz beobachtbar. «Wenn wir jedoch fordern, dass man verdächtige Menschen gezielt durchsucht, kommen irgendwelche Idioten und reden von Racial Profiling», so Fischer.
Marianne Binder-Keller warnt davor, dass die Schweiz durch die Toleranz von intoleranten Kräften ihre Grundwerte abschaffe. Deswegen müssten potenzielle Täter «viel konsequenter auf rechtsstaatsfeindliches Gedankengut geprüft werden». Zudem seien die Mittel für die Sicherheit aufzustocken, so die Mitte-Ständerätin.
Eine konträre Ansicht vertritt Fabian Molina. In der Schweiz radikalisierten sich Jugendliche unabhängig der Nationalität, darunter auch viele mit Schweizer Pass, so der SP-Nationalrat. Molina argumentiert:
Gegenüber der SonntagsZeitung gab die Bundesanwaltschaft (BA) bekannt, dass die Anzahl Fälle im Bereich Terrorismus in den letzten Jahren «markant zugenommen» habe. Derzeit seien in der Schweiz gemäss BA rund 100 Verfahren im Zusammenhang mit radikalem Islamismus hängig, es gehe dabei um Delikte wie Propagandaverbreitung und Terrorfinanzierung.
Ein Sprecher der Bundesanwaltschaft sagte: «Dies zeigt, dass das Phänomen des dschihadistisch motivierten Terrorismus in der Schweiz mitnichten verschwunden, sondern nach wie vor sehr präsent ist.»