Der 6. Juli 2022 war der Tag, an dem Ticos Leben in freier Wildbahn eingeläutet wurde – vermeintlich. Damals hievten brasilianische Tierschützer den Koloss ins offene Gewässer. Inmitten dieser Szenerie beginnt die Recherche des deutschen «Spiegel»-Magazins.
Tico ist ein Seekuh-Männchen, 2,68 Meter lang und 346 Kilogramm schwer. Das Tier hätte eigentlich eine Partnerin suchen und so zur Erhaltung seiner stark gefährdeten Art beitragen sollen. Doch stattdessen wurde Tico zur «Staatsaffäre», wie der «Spiegel» es nennt.
Das ist passiert:
Tico wurde als kleines Baby an die Küste Brasiliens geschwemmt, neben ihm lag sein Zwillingsbruder Teco – beide mit der Nabelschnur am Bauch. Aufgefunden wurden sie «dehydriert und röchelnd». Von der Mutter war weit und breit keine Spur. Es war der 15. Oktober 2014.
Dass Seekuh-Kinder ihre Mutter verlieren, kommt nicht selten vor. Denn in den ehemals geschützten Flussmündungen und Mangrovenwäldern, wo die Weibchen ihren Nachwuchs ursprünglich aufzogen, ist heute kaum noch Wasser. Dieses wird von Salinen und Shrimp-Farmen abgepumpt. Darum weichen Seekühe immer öfter ins offene Meer aus, wo die Strömung viel stärker ist – in der Folge verlieren sich Mutter und Kind manchmal aus den Augen, schreibt der «Spiegel».
Tico und Teco wurde von Mitarbeitenden der Organisation Aquasis aufgepäppelt und gepflegt. Aquasis bekommt Millionen-Beiträge vom brasilianischen Staat. Der Auftrag der Umweltschützer: gefährdete Arten und wichtige Lebensräume in Brasilien schützen und erhalten. Ein Fokus liegt dabei auf Seekühen.
Doch Tico wollte anfangs nicht so recht. «Er war ein Kind, das Arbeit machte. Wir waren uns nie sicher: Schafft er es?», sagte der Tierarzt und Leiter von Aquasis, Vitor Luz, den Reportern des «Spiegels». Er sagte auch, dass obwohl er eher die ganze Spezies und ihre Rolle in den Gewässern und nicht das einzelne Individuum im Blick habe, Tico ihm ans Herz gewachsen sei:
Und Tico hat endlich gegessen.
Teco starb, fünf Jahre nachdem die Brüder gerettet wurden, in der Obhut von Aquasis. Sand verstopfte seine Atemlöcher. Als die Pfleger am Morgen die beiden Brüder in ihrem Pool überprüfen wollten, hielt Tico den toten Teco eng an sich gedrückt.
Der schüchterne Tico musste nun ohne den draufgängerischen Teco klarkommen. Im Gegensatz zu Teco hatte Tico auch nie eine ganz enge Bindung zu seinen Pflegern – was diesen Hoffnung gab für eine Auswilderung. «Tiere, die die Menschen meiden, haben draussen bessere Überlebenschancen», sagte Luz dem «Spiegel».
Im Juli 2022 war es dann so weit: Tico und sein GPS-Tracker kamen nach einem aufwendigen Training zurück in die Wildnis.
Am ersten Tag in Freiheit erkundete Tico lediglich die Umgebung. Dann begann er seine Reise. Der Tierarzt Luz zeigte dem «Spiegel» die Auswertung der GPS-Daten – Tico schwamm teilweise 70 Kilometer am Tag. Dabei leben Seekühe normalerweise sehr lokal verankert und legen normalerweise nie mehr als 7 Kilometer pro Tag zurück.
Doch Tico schwamm und schwamm. Einmal verhedderte er sich in einem Fischfangnetz und die Mitarbeitenden von Aquasis mussten den Koloss befreien. Luz habe damals sogar überlegt, die Auswilderung abzubrechen, verrät er dem «Spiegel».
Am 24. Tag seiner Reise verliess Tico dann brasilianisches Staatsgebiet. Er raste durch die Gewässer von Französisch-Guayana, Surinam und Guyana, bevor er Tobago erreichte. Teilweise schien er sich verirrt zu haben. Die Forscherinnen von Aquasis verloren seine Spur immer wieder.
Verirren tut Tico sich heute sicher nicht mehr. Denn die Seekuh lebt mittlerweile wieder in Gefangenschaft in einem Pool des Parque Bararida in Barquisimeto in Venezuela. Der Zoodirektor Juan Rodríguez schwärmt von Tico – die Seekuh sei für ihn wie ein Kind.
Doch warum lebt Tico wieder in menschlicher Obhut? Nach seiner epischen Reise von über 4000 Kilometern war Tico einfach zu geschwächt und benötigte medizinische Hilfe.
Für den Zoo ist Tico gleich doppelt wertvoll. Zum einen ist er ein Publikumsmagnet – das Ministerium vermarktet das Tier auf Instagram regelrecht –, zum anderen ist der Parque Bararida in Barquisimeto der einzige Zoo in Venezuela, der Seekühe züchtet. Allerdings gehört das Weibchen, das der Zoo besitzt, einer anderen Seekuh-Unterart an – der potenzielle Nachwuchs läuft darum Gefahr, mit genetischen Defekten geboren zu werden.
Für das Team von Aquasis ist die Anwesenheit Ticos in Venezuela nicht per se ein schlechtes Zeichen. Denn immerhin lebt er noch.
Allerdings wollen die Brasilianer Tico zurück. Im September schrieb BBC, man arrangiere derzeit mit den venezolanischen Behörden die Rückführung von Tico nach Brasilien. Brasilien will ihn nämlich noch einmal für eine Auswilderung ausbilden – damit er in seinen angestammten Gewässern auf Weibchen seiner Unterart treffen kann. Und so endlich seinen Beitrag leisten kann zum Erhalt der Seekühe in Brasilien.
Doch Venezuela will nicht. Die offiziellen Stellen bocken. Der Zoodirektor Rodríguez sagt dem «Spiegel»:
Für einen ehemaligen Tierarzt des Zoos in Venezuela ist klar, warum der Zoo Tico nicht gehen lassen will: Geld. Eine im Zoo geborene Seekuh könne nämlich bei einem internationalen Verkauf 80'000 bis 100'000 Dollar einbringen.
Der venezolanische Tierarzt sieht nur eine Möglichkeit, dass Tico zurückkehrt nach Brasilien – zu seinen Weibchen: Lula müsse mit Maduro sprechen. Der «Spiegel» sieht in dieser Hinsicht einen hellen Streifen am Horizont: «Auch Lula, hört man, sei inzwischen informiert.» (yam)