Ein weiblicher Grindwal liegt tot auf Beton, ein fast fertig entwickeltes Kalb quillt dem Kadaver aus dem aufgeschlitzten Bauch. Das war am 29. Juni 2022.
Die beiden toten Wale sind keine Einzelfälle: Während sechs Treibjagden von Mai bis Oktober starben dieses Jahr auf den Färöern 529 Grindwale (Globicephala melas) und 101 Grosse Tümmler (Tursiops truncatus).*
Diese Zahlen sind tief im langjährigen Vergleich: In den letzten drei Jahrhunderten starben jedes Jahr durchschnittlich 838 Grindwale und 75 Delfine während Treibjagden auf den Färöern, zeigt eine Studie aus dem Jahr 2012.
Die Bilder der Treibjagden sind für nicht-faröische Betrachtende befremdlich: blutrotes Wasser, aufgeschlitzte Wale, dazwischen Männer und Buben mit Seilen und Messern in den Händen. Doch die Menschen auf den Färöer-Inseln verteidigen ihre uralte Tradition vehement und sagen, Kritiker heizten die Jagden erst richtig an.
Was steckt hinter der sogenannten Grindadráp: Kulturgut oder Tierquälerei?
Die Grindadráp ist eine über 1000-jährige Tradition. Grinds gelten sogar als die am längsten kontinuierlich praktizierte Walfang-Tradition der Welt, wie Russell Fielding von der University of the South in Sewanee (USA) gegenüber «National Geographic» erklärte.
Der Kern der Grindadráp war die gemeinschaftliche Bereitstellung von kostenloser Nahrung für die ganze Gesellschaft zu gleichen Teilen. Und auch heute noch wird ein Grossteil des anfallenden Walfleisches und -specks unter den Jagdteilnehmern und innerhalb der lokalen Gemeinschaften verteilt.
Der färöischer Pfarrer V. U. Hammershaimb schrieb 1891 in seinem kommentierten Werk «Færøsk Anthologi II»:
Doch damit allein lässt sich der Walfang heute nicht mehr rechtfertigen. Auch die Färöer sind per Luft- und Seeweg mit dem gesamten Lebensmittelangebot der Welt versorgt. Darum sagt Fielding:
Was also ist dieser kulturelle Aspekt der Grind?
Seit dem neunzehnten Jahrhundert werde die Grindadráp sowohl von Färingern als auch von Aussenstehende als ein kulturelles Merkmal der Färöer wahrgenommen, wie Benedict Esmond Singleton und Fielding in einem wissenschaftlichen Aufsatz 2017 beschrieben. Und diese Identität gehe eben über die reine Nahrungsbeschaffung hinaus.
Während der letzten 30 Jahren wurden Grinds zunehmend institutionalisierter und gesetzlich reglementiert – auch um die Interessen der Akteure aus verschiedenen Gruppen auszugleichen. Trotzdem sehen Singleton und Fielding die kulturelle Bedeutung der Grinds auch heute noch darin, dass die «färöische Gemeinschaft» aufrechterhalten werde. Und dies geschehe durch die flachen Hierarchien, die während der Treibjagden gelebt werden sowie das anschliessende gemeinsame Aufteilen von Fleisch – denn Gleichheit sei schon immer eines der wichtigsten Merkmale der färöischen Gesellschaft gewesen. Das Fazit der Wissenschaftler:
2021 wurde im Auftrag des färöischen Fernsehens eine Umfrage zur Grind durchgeführt: 83 Prozent der Färöer unterstützen die Tradition.
Die Färinger können sich in Listen eintragen lassen, um einen Teil des Walfleisches zu erhalten. Dort, wo es zu viele Menschen gibt, damit alle bei jedem Fang einen Anteil bekommen, werden Wartelisten geführt.
Zudem wird Walfleisch in verschiedenen färöischen Geschäften verkauft. Die Regierung behauptete zwar, dass die Grinds keinerlei kommerziellen Aspekt hätten, doch am 4. August 2017 berichtete die färöische Zeitung «Dimmalætting», dass ein ganzer Grindwale für 25'000 Kronen (3274 Franken) an Supermärkte verkauft worden sei. Zudem gibt es seit 2021 ein Gesetz, das den Handel mit Walfleisch auf den Färöern legalisiert.
Bjarni Mikkelsen, Mitglied des wissenschaftlichen Kommites der North Atlantic Marine Mammal Commission (NAMMCO) rechtfertigte gegenüber dem Pulitzer Center den Verzehr von Walfleisch als ökologisch:
Traditionell wird Tvøst og Spik (Walfleisch und -speck) als Saltgrind serviert: gekochtes und gesalzenes Walfleisch. Oder als Grindabúffur, ein Grindwal-Steak – meistens serviert mit weisser Sosse und Kartoffeln.
Doch Walfleisch gilt als stark mit Schadstoffen belastet und wird Kindern und Schwangeren nicht zum Verzehr empfohlen. Besonders gefährlich für den Menschen ist die starke Belastung der Meerestiere mit Methylquecksilber, das die neurologische Entwicklung von Kindern beeinträchtigen kann. Methylquecksilber ist als Verunreinigung in vielen Meeresökosystemen zu finden.
Früher wurden alle Teile des Wals verwertet – so wurde das Fett als Lampenöl genutzt oder die Walpenisse wurden in Streifen geschnitten und als Nähgarn für Fellschuhe verwendet.
Grindadráp sind seit jeher opportunistische Ad-hoc-Jagden. Das bedeutet: Eine Grind ist kein geplantes Ereignis, sondern richtet sich nach der Ankunft einer Walgruppe zwischen den 18 zerklüfteten Inseln, nach günstigen Zeiten sowie der Verfügbarkeit von Menschen vor Ort. Wenn dann noch die Wetter- und Seebedingungen gut sind, findet die Jagd statt.
Die Färinger haben es normalerweise auf Langflossen-Grindwale abgesehen. Wenn sich die Gelegenheit bietet, verschmähen sie aber auch Grosse Tümmler, Weissseitendelfine und Rundkopfdelfine nicht.
Ein Merkmal der färöischen Grind ist es, dass keine professionellen Walfänger anwesend sind. Jeder Teilnehmer hat einen normalen Job, und wenn eine Grind ausgerufen wird – normalerweise über Handys, das Radio oder soziale Medien – dann strömen die Menschen ans Wasser und versuchen, auf ein Boot zu gelangen. Die einzige Person, die für die Teilnahme an der Jagd bezahlt wird, ist der dessýslumaður (Landrat).
Sobald die Entscheidung zum Töten der Wale gefallen ist, beginnt eine Flottille kleiner Boote die Wale in eine zuvor bestimmte Bucht zu treiben, wo sich weitere Teilnehmern versteckt halten. (Die Färöer sind in sechs Walfangdistrikte unterteilt, die jeweils über mehrere gesetzlich festgelegte Walfangbuchten verfügen.)
Sobald die Wale stranden oder sich in Ufernähe befinden, werden sie getötet. Früher wurden die Tieren mit Messern traktiert. Seit 2015 muss die Tötung jedoch mit einem sogenannten mønustingarar erfolgen – einem langen Stab mit einer Klinge an der Spitze. Dieses Gerät wird den Walen in ihr Atemloch gerammt, um so die Wirbelsäule zu durchtrennen. Das ist der Moment, in dem sich das Wasser blutrot verfärbt.
Die toten Wale werden dann mit Seilen an Land gezogen. Bevor der Fang aufgeteilt wird, werden häufig Wissenschaftler an die Kadaver gelassen, um Proben zu entnehmen sowie die biometrischen Daten der Tiere zu erfassen. Diese wissenschaftliche Arbeit wird vom färöischen Fischereiministerium finanziert.
Normalerweise dauert eine Grind rund zwei Stunden. Zum Schluss versenkt jemand die Rückenmarke und die Innereien der Tiere im offenen Wasser.
Die Grindadráp wird von mehreren Tierrechts-Organisationen und Wissenschaftlern verurteilt. Unter anderem wird befürchtete, dass der Grindwalbestand durch die nicht regulierte Jagd in Gefahr geraten könnte. Färöische Walfangbefürworter bestreiten dies und behaupten, dass sich der Bestand als robust erwiesen habe.
Weiter wird zum Beispiel kritisiert, dass Wale sehr soziale Tiere seien und die Anwesenheit während der Tötung ihrer Artgenossen emotionalen, psychischen und physischen Stress bedeute.
watson-Videoreporterin Sina Alpiger hat sich mit einer Aktivistin von Sea Sheperd getroffen, die eben erst von den Färöern zurückgekehrt ist, wo sie das Walschlachten dokumentiert hat. Zudem hat sie einen Evolutionsbiologen gefragt, was er von Grindadráp halte:
Gerade die Aktionen von Sea Shepherd werden von den Färöern häufig als aggressiv kritisiert. Dabei greifen die Meeresschutz-Aktivisten nicht direkt in die Jagd ein – sondern dokumentieren diese normalerweise und stören sie teilweise aus der Ferne. Trotzdem erklärte Páll Nolsøe, Kommunikationsberater der Regierung der Färöer, gegenüber dem Pulitzer Center im August dieses Jahres:
Die färöische Regierung hat auf mehrfache Anfrage von watson zur Grindadráp nicht reagiert.
Grindadráp ist also eine Tradition auf den Färöern, wegen der jedes Jahr hunderte Tiere gewaltsam sterben. Und es scheint zu gelten: Je stärker die Diskussion über die ethischen, ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen dieser Tradition gehen, desto stärker wird die Grind von Menschen verteidigt, die die Tradition aktiv leben – und ihre Identität infrage gestellt sehen.
* Die Zahlen stammen von Sea Shepherd Schweiz. Die Statistik von Sea Shepherd weist teilweise andere Zahlen auf, als die Statistik der Färöer. Dies, weil die Färöer die Zahlen der Wale angeben, welche weiterverwertet wurden. Sea Shepherd zählt jedes getötete Tier – einschliesslich der Ungeborenen, den Babys und den ausrangierten Tieren, die als «ungeniessbar» einstuft werden.
Der Bestand im Nordatlantik wird auf 100'000 geschätzt und der Grindwal gilt als nicht gefährdet. Tierschutzorganisationen vergessen gerne zu erwähnen, wenn sich Dinge auch dank ihnen zum Guten wenden.
Wenn es mit der Verschmutzung der Welt aber in dem Mass weitergeht, dann ist auch diese "Tradition" hinfällig, weil man die Tiere gar nicht mehr essen kann. Quecksilber, PCB, DDT (Insektizid), andere Schwermetalle und Gifte werden bis zum Ende von Nahrungsketten summiert - über Jahre.
Das gibt mir zu denken und das betrifft nicht nur diese Tiere.