Seine Regierung versucht, den Begriff mit aller Macht zu vermeiden. Seine Pressesprecherin nimmt trotz allen Nachfragen das K-Wort bislang nicht in den Mund, sie spricht nur von «gewaltigen Herausforderungen». Dabei ist längst klar: Joe Biden erlebt als US-Präsident seine erste Krise.
Die Zahl der Migranten, die von der US-Grenzpolizei im Süden aufgegriffen werden, schiesst seit Wochen in die Höhe. Allein im Februar wurden 100'000 Menschen beim Übertritt von Mexiko in die USA festgenommen, darunter knapp 9'500 Kinder und Jugendliche. Mit deren Beherbergung kommt die Regierung nicht mehr hinterher – obwohl sie bereits die Corona-Regeln aufgehoben hat.
Joe Biden wollte alles besser machen in der Grenzpolitik als Donald Trump – und steht nun doch vor einem ähnlichen Problem wie sein Vorgänger. Der Ansturm auf die US-Südgrenze ist so gewaltig, dass die Grenzschützer ihn nicht gut bewältigen können. Und Bidens eigene Versprechen haben eine ganze Menge mit seiner ersten Krise zu tun.
Wegen der Zustände an eben jener Grenze war Trump einst weltweit in die Kritik geraten. Mit einer Null-Toleranz-Politik wollte er Migranten abschrecken. Dazu gehörte auch, Erwachsene massenhaft einzusperren und ihre Kinder von ihnen zu trennen. Als die neue Politik im Frühsommer 2018 forciert wurde, wurden binnen Wochen tausende Familien zerrissen.
Zahlreiche Kinder, darunter auch viele Kleinkinder, harrten in völlig überlaufenen Lagern auf Betonböden aus. Manche Familien konnten wegen des Chaos anschliessend gar nicht wieder zusammengeführt werden.
Nach Ausbruch der Pandemie vor einem Jahr liess Trump wiederum die Grenze faktisch dichtmachen. Unter Verweis auf Corona wurden fast alle Flüchtlinge , auch Kinder und Jugendliche, umgehend nach Mexiko abgeschoben, egal aus welchem Land sie stammten und unabhängig davon, ob sie Asyl beantragen wollten.
Joe Biden hatte versprochen, wieder eine humanere Grenzpolitik zu betreiben und nahm in seinen ersten Amtstagen mehrere Änderungen vor. Die coronabedingten Ausweisungen gibt es weiterhin – von den 100'000 Festgenommenen wurden 72'000 direkt wieder nach Mexiko zurückgedrängt. Doch Biden liess minderjährige Migranten und auch Familien mit Kindern von Trumps Regeln ausnehmen.
Die Grenzbehörden fühlen sich laut interner Stimmen, die die US-Medien zitieren, förmlich überrannt. Am Dienstag sagte nun Bidens Heimatschutzminister Alejandro Mayorkas, man stelle sich auf einen Ansturm ein, wie es ihn seit 20 Jahren nicht gegeben habe.
Bei Flucht und Migration in die Vereinigten Staaten kommt es immer wieder zu Wellenbewegungen. Im Frühling nehmen die Zahlen meist zu, weil es das Wetter zulässt. Die wirtschaftliche und soziale Lage in zentralamerikanischen Staaten wie Honduras und Guatemala wird noch schlechter, schwere Tropenstürme haben auch vielen Bauern die Lebensgrundlage genommen.
Doch es ist auch klar, dass der Ansturm mit dem Regierungswechsel im Weissen Haus zu tun hat. Roberta Johnson, Bidens Sonderbeauftragte für die Grenze, drückte den Zusammenhang so aus: «Anstiege sind Reaktionen auf Hoffnungen. Und es hat sich nach den vier Jahren eine bedeutende Hoffnung auf eine humanere Politik angestaut.»
Vergangene Woche richtete sie von der Pressetribüne des Weissen Hauses auf Spanisch einen Appell an Migranten, sich jetzt bitte nicht auf den Weg zur Grenze zu machen. Andere Regierungsvertreter äussern sich ähnlich. Die Biden-Regierung hat mit ihren Versprechen zu einer humanitären Flüchtlingspolitik Begehrlichkeiten geweckt, die sie so nicht erfüllen kann.
Besonders deutlich zeigt sich das bei der Unterbringung der Kinder und Jugendlichen, die ohne ihre Eltern die Grenze überquert haben. Sie müssen binnen 72 Stunden in Heime des US-Gesundheitsministeriums überführt werden.
Von dort aus können sie später mit sogenannten Sponsoren untergebracht werden, meist sind das Verwandte, die bereits in den USA leben, oder Pflegefamilien. Um dem Ansturm Herr zu werden, wurden in den Heimen die wegen Corona eingeführten Platzbeschränkungen wieder aufgehoben.
Interessieren Sie sich für die US-Politik? Washington-Korrespondent Fabian Reinbold schreibt einen Newsletter über seine Eindrücke aus den USA und den Machtwechsel von Donald Trump zu Joe Biden. Hier können Sie die «Post aus Washington» kostenlos abonnieren, die dann einmal pro Woche direkt in Ihrem Postfach landet.
Doch mehr als 3'500 Kinder und Jugendliche warten derzeit auf einen Platz in einem der Heime, die meisten von ihnen sind Teenager. Solange müssen sie in den Grenzwachen der Sicherheitsbehörden ausharren. Dort schlafen sie meist auf nacktem Beton, während das Licht 24 Stunden um die Uhr angeschaltet ist. Es sind eher Bedingungen wie im Gefängnis. Sie produzieren Bilder, auch wenn die Hintergründe nun andere sind, die an die Zeit von Trumps Null-Toleranz-Politik erinnern.
Die Biden-Regierung hat nun die Katastrophenschutzbehörde FEMA aktiviert, um neue Lager zu errichten. In der texanischen Metropole Dallas sollen 3000 unbegleitete Minderjährige in einem Messezentrum untergebracht werden.
Politisch betrachtet ist das alles äusserst heikel für Biden. Eigentlich will er eine grosse Einwanderungsreform anstossen, für die er allerdings auch Stimmen der Republikaner benötigt. Je länger die Lage an der Grenze ausser Kontrolle ist, desto schwieriger wird das wohl.
In den konservativen Medien ist die Situation an der Grenze das grösste Thema. Die Republikaner haben längst ein Schlagwort für die Lage. Sie sprechen seit einigen Tagen von «Bidens Grenzkrise».
Man kann halt nicht sagen "kommt her, hir seid alle willkommen" - und sich dann wundern wenn die Leute tatsächlich kommen....
Biden hat mit der Kritik an Trumps Grenzpolitik Hoffnungen geschürt, die nun eingelöst werden wollen.
Er wird den Zaun fertig stellen.