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Wirtschaft trotz Ukrainekrieg: Russland plant Vollbeschäftigung

epa10784507 Russian President Vladimir Putin holds a video conference meeting with members of the Russian Security Council in Moscow, Russia, 04 August 2023. EPA/ALEXEI BABUSHKIN / SPUTNIK / KREMLIN P ...
Kremlchef Putin: Während der Rubel an Wert verliert, sinkt die Arbeitslosigkeit im Land.Bild: keystone

Vollbeschäftigung trotz Krieg – deshalb braucht Putin ein Wirtschaftswunder

Sanktionen, Kriegsdienst, Fachkräfteabwanderung: Russlands Wirtschaft leidet unter den Folgen des Angriffskriegs auf die Ukraine. Trotzdem bewegt sich das Land auf Vollbeschäftigung zu. Wie passt das zusammen?
08.08.2023, 22:3208.08.2023, 22:55
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Ein Artikel von
t-online

Russland führt seit mehr als einem Jahr einen Angriffskrieg gegen die Ukraine und bekommt deshalb harte Sanktionen des Westens zu spüren. Etliche Staaten beziehen längst kein Gas und Öl mehr aus dem Land, Milliardenaufträge für die Energiekonzerne, der Wirtschaftsmotor des Landes, sind futsch.

Und doch zeigen russische Statistiken: Der Wirtschaft des Landes geht es vergleichsweise gut. Derzeit soll sich Russland sogar auf eine Vollbeschäftigung zubewegen. Auch das Realeinkommen der Bevölkerung soll 2023 um 3.4 Prozent steigen. Wie geht das? Ist von einer Krise in Russland gar keine Spur?

Um diese Fragen zu beantworten, muss man zunächst wissen: Arbeit und Arbeitslosigkeit haben in Russland eine grosse gesellschaftliche Bedeutung.

Seit Jahrzehnten besteht im Land eine Art unausgesprochener Gesellschaftsvertrag, wonach die Regierung den Menschen nach den turbulenten Übergangsjahren der Sowjetunion einen gewissen Lebensstandard garantiert. Die Arbeitsplätze sind sicher, die Renten (wenn auch gering) ebenfalls. Im Gegenzug halten sich die Menschen weitgehend aus der Politik heraus.

Wert seit 1991 nicht mehr so niedrig

Das zeigt sich auch darin, dass die Behörden von Unternehmen verlangen, selbst in schwierigsten Zeiten Mitarbeitende zu halten. So auch in der jetzigen Krise, seit der Kreml entschied, das Nachbarland Ukraine zu überfallen. Das soll signalisieren, dass die Menschen auch inmitten grosser Turbulenzen ihrer Arbeit nachgehen und ihr Leben weiterleben können – wenn auch unter oft bescheidenen Umständen, denn der Mindestlohn ist in Russland im Vergleich zu den Lebenshaltungskosten recht niedrig.

Die offizielle Arbeitslosenstatistik sieht gut aus, und das schon seit knapp sechs Monaten, wie das russische Investigativmedium «iStories» berichtet: Aktuell sind so wenige Menschen ohne Job wie seit mehr als 30 Jahren nicht mehr.

Die Arbeitslosigkeit lag im Mai bei 3.2 Prozent. Das habe es in der gesamten Geschichte der Beobachtungen seit 1991 nicht gegeben, so die Analyse. Auch Wirtschaftsminister Maxim Reschetnikow frohlockte unlängst: «Wir haben eine historisch niedrige Arbeitslosigkeit, und es ist gut möglich, dass wir weitere historische Rekordtiefs bei der Arbeitslosigkeit sehen werden.»

Normalerweise bedeutet eine niedrige Arbeitslosigkeit: Der Wohlstand wächst, weil mehr Menschen Geld verdienen, das sie wiederum ausgeben können, was abermals für mehr Wachstum und ein Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) sorgt.

Tatsächlich aber ist die russische Wirtschaft 2022 um mehr als zwei Prozent geschrumpft. Für das laufende Jahr prognostizieren Ökonomen ebenfalls eine Rezession. Das zeigt: Trotz hoher Beschäftigung kann von wirtschaftlichem Aufblühen also kaum die Rede sein.

Kreml hantiert mit geschönten Zahlen

Normalerweise, heisst es in der Analyse von «iStories», bedeute jedes einzelne Prozent weniger BIP zwei Prozentpunkte mehr Arbeitslosigkeit. So sei es bei entwickelten Industrieländern. In Russland aber ist das BIP im ersten Quartal 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 1.9 Prozent geschrumpft – und die Arbeitslosigkeit ebenfalls zurückgegangen. «In diesem Sinne ist der Zustand der russischen Wirtschaft phänomenal»; zitiert «iStories» den Wirtschaftsprofessor an der University of California, Oleg Itskhoki.

Moskau im Sommer 2023: Menschen werden in Teilzeit versetzt oder in unbezahlten Urlaub geschickt.
Moskau im Sommer 2023: Menschen werden in Teilzeit versetzt oder in unbezahlten Urlaub geschickt. Bild: imago

Ein russisches Wirtschaftswunder? An dieser Lesart gibt es Zweifel. Denn Beobachter und Experten sind sich einig: Die russische Regierung hantiert mit geschönten Zahlen. Zwar gebe es tatsächlich keine Massenentlassungen, Menschen würden aber in Teilzeit versetzt oder in unbezahlten Urlaub geschickt, schreibt «iStories».

In Russland kursiere gar die Anekdote eines Fabrikchefs der Eintrittsgeld zu seinem Werk verlange. Die Folge ist eine «verschleierte Arbeitslosigkeit». Das sei vielen klar, für viele Angestellte aber immer noch besser, als den Job zu verlieren. (Wie Putin Wirtschaftszahlen in der Energiebranche zu seinen Gunsten nutzt, lesen Sie hier.)

Verfall von innen

Die Arbeitslosigkeit ist aber auch aus anderen Gründen nur dem Anschein nach niedrig. «iStories» hat Zahlen analysiert, wonach bereits im November der Anteil der Unternehmen deutlich stieg, die aus «formalen Gründen», zum Beispiel Einberufung, Gerichtsverfahren oder Tod, Mitarbeitende verlieren: Von bislang 38 Prozent erhöhte sich dieser Wert auf 60 Prozent.

Diese dann offenen Stellen besetzen sie mit jenen Leuten nach, die zuvor keinen Job hatten, was sich positiv auf die Statistik auswirkt – allerdings nicht automatisch zu mehr Wirtschaftswachstum führen muss.

Die Moskauer Wirtschaftswissenschaftlerin Natalja Subarewitsch spricht vielmehr von einem «Verfall» der russischen Wirtschaft, gewissermassen von innen heraus. Denn: «Die Wirtschaft verfügt kaum noch über Personalressourcen, aber die gehören zu den wichtigsten Voraussetzungen für Wachstum», sagte sie «iStories».

Hunderttausende zogen in den Krieg und fehlen am Arbeitsmarkt

Dringend nötige Arbeitskräfte sind also nirgends zu bekommen. Denn Hunderttausende wurden in den Kriegsdienst eingezogen, Hunderttausende ergriffen die Flucht und wanderten aus – Hunderttausende fehlen also auf dem Arbeitsmarkt. Hinzukommt, dass Zuwanderer, die üblicherweise den Fachkräftemangel in Russland abfedern, angesichts des Kriegs das Land verlassen haben und kaum welche nachkommen.

Dabei zeigt sich: Das Personalproblem geht tiefer als Sanktionen, die von aussen auf die Wirtschaft wirken. Während Sanktionen umgangen werden können, indem man etwa deutsche Maschinen durch chinesische ersetzt oder über Drittstaaten einkauft, sind menschliche Ressourcen nicht so einfach ersetzbar.

Wassili Osmakow, erster stellvertretender Minister für Industrie und Handel in Russland, räumte das bereits Ende Mai ein: «Projektmitarbeiter, Manager und Arbeiter – darauf kommt es eigentlich an (...), das ist die grösste Herausforderung hier und jetzt.» Die Schwierigkeiten bestehen ihm zufolge nicht nur unter IT-Fachleuten, die in Scharen das Land verlassen haben. Auch in der Industrie herrsche grosser Mangel, sagte er auf dem Eurasischen Forum.

Ähnlich geläutert äusserte sich Maxim Oreschkin, Wirtschaftsberater des russischen Präsidenten: «In vielen Branchen bestehe ein 'grosser Personalhunger', hier unterscheidet sich die Situation deutlich von der, die wir 2020 bis 2021 hatten.»

Häftlinge als Autobauer

Wie «iStories» berichtet, reagieren Unternehmen unterschiedlich: «Besonders radikal» gehe etwa der Autohersteller AwtoWas vor: Für die Montage des Lada Vesta NG sollen Häftlinge verpflichtet werden. Ein Chemieunternehmen in der Wolga-Wjatka-Region soll mehr Manager eingestellt haben, die nur dafür da sein, Personal zu beschaffen. Im Ural haben Unternehmen dem Bericht zufolge damit begonnen, Anreize für Arbeitskräfte zu schaffen: Umzugszuschüsse, Reisekostenerstattung, Fortbildungen – und begonnen, Löhne zu erhöhen.

Bildnummer: 53826140 Datum: 10.04.2009 Copyright: imago/Hansjörg Hörseljau
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Die russische Zentralbank in Moskau: Sie warnt vor einem Anstieg der Inflation.Bild: imago images

Doch gerade Letzteres – ein genutztes Mittel in der Not – erweist sich als problematisch: «Die Löhne steigen schneller als die Arbeitsproduktivität», betont «iStories», das wiederholt auch immer wieder die russische Zentralbank: Diese ungleiche Entwicklung müsse dann durch Preiserhöhungen kompensiert werden. Das wiederum kann die Inflation in die Höhe treiben. Für die russische Wirtschaft ist das wiederum von Nachteil.

Für die Zukunft zeichnet sich damit ein weniger rosiges Bild ab. Die sinkende Zahl der Arbeitskräfte, so die Wirtschaftswissenschaftlerin Subarewitsch, werde zwangsläufig die wirtschaftliche Erholung verlangsamen. Und noch mehr: Sie könnte zu mehr Armut führen.

Beschäftigte, die zwar nicht entlassen werden, dafür aber weniger Geld bekommen, können sich weniger leisten, ihr Lebensstandard könnte deutlich sinken. Das birgt sozialen Sprengstoff – und könnte sogar am eigentlich so fest etablierten Gesellschaftsvertrag im Putinschen Reich rütteln.

Verwendete Quellen:

  • istories.media: "Не хватает рук: почему рекордно низкая безработица — это на самом деле проблема" (russisch)
  • istories.media: "Экономика солнца и ветра: правда ли, что война остановила глобальный энергопереход" (russisch)
  • rbc.ru: "Минпромторг признал кадровую проблему ключевым вызовом для промышленности" (russisch)
  • interfax.ru: "Глава Минэкономразвития допустил, что 'низкая безработица с нами надолго'" (russisch)
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23 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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MartinZH
08.08.2023 23:02registriert Mai 2019
RU ist dafür bekannt, dass volkswirtschaftl. Statistiken und Kennzahlen nicht der Realität entsprechen und manipuliert werden. Daher spielt es auch keine Rolle, ob die Story mit der "Vollbeschäftigung" stimmt – oder nicht.

Die Sanktionen haben viele Jobs vernichtet. Aber der RU-Fachkräftemangel ist aufgrund der Mobilmachungen und des Braindrains noch viel gravierender als z.B. in Mitteleuropa. Und der demografische Wandel schlägt in RU ebenfalls voll durch.

Vollbeschäftigung war im real-existierenden Sozialismus – aufgrund der lausigen Produktivität – schon eine Tatsache. So wohl auch jetzt.
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butlerparker
08.08.2023 23:38registriert März 2022
Der Autor vergißt einen Punkt.Es werden im Moment 100.000nde,am Schluß werden es Millionen sein aus den besetzten Gebieten deportiert+teilweise als Zwangsarbeiter (dann sehr günstig) oder als "normale Arbeitskräfte" eingesetzt.Sollte die UA endlich ihre Gebiete zurückerobern,steht zu befürchten,daß man auf menschenleere Städte treffen wird. Ähnich wie man es ja jetzt schon mit Kindern tut. Und ja,das sind Kriegsverbrechen.

Im Artikel fehlt auf ein wichtigeres Problem hinzuweisen.Auf die Staatsquote,weil das Wachstum mit Kriegswirtschaft "erkauft" wird.Das ist dauerhaft tödlich für jede VolksW
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Pat da Rat
09.08.2023 05:20registriert Mai 2022
Vollbeschäftigung während eines Krieges ist jetzt nicht gerade das grosse Wunder. Man steckt entweder jeden in die Kriegswirtschaft oder an die Front... et voilà, Vollbeschäftigung 😉 Sinnvoll ist es nicht, bringt das Land nicht weiter und bis auf die Besitzer der Unternehmen, welche Rüstungsgüter produzieren profitiert kaum jemand. Den Arbeitern und Angestellten wird an die patriotische Pflicht appelliert und von Opferbereitschaft fürs Mutterland gefaselt, damit man weniger Salär zahlen muss oder ihnen direkt gedroht, dass es sonst ab an die Front geht. Kommt bekannt vor.
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