Wie entsteht Kreativität?
Hennric Jokeit: Die Kreativität können wir im Frontallappen des Hirns verorten. Sie entsteht durch ein Wechselspiel von Enthemmung und Hemmung. Wenn das Hirn die Kontrolle runterfährt, sich enthemmt, werden Regelbrüche möglich. Wir ziehen dann bisher nicht gesehene assoziative Verbindungen oder es gelingt uns, Dinge von einer ganz anderen Seite zu betrachten. Das Hirn merkt dann: Da ist was Neues, das gefällt mir. Dass aus diesem Geistesblitz aber wirklich etwas Brauchbares entsteht, muss das Hirn wieder gehemmt werden, die Kontrolle zurückgewinnen. Da ist Disziplin gefragt.
In welchem Alter sind wir am kreativsten?
Der Frontallappen ist jene Hirnregion, die als letzte ausreift, meistens kurz nach dem zwanzigsten Lebensjahr. Es ist aber auch jene Region, die früher als andere Funktionen Leistungsfähigkeit einbüsst. Ab etwa 60 Jahren kann das gemessen werden.
Wir haben also 40 Jahre Zeit?
Von etwa 20 bis 35 Jahre sind im Hirn die radikalsten Kreativprozesse möglich. Hier bilden sich neue Sichtweisen, die uns danach prägen. Das kann man auch soziologisch nachweisen. Der Musikgeschmack ändert sich bei den meisten Menschen ab einem Alter von 30 Jahren kaum mehr. Die meisten Nobelpreisträger erhalten ihren Preis für Entdeckungen oder Erfindungen, die sie in der vierten, seltener in der fünften Lebensdekade gemacht haben.
Es gibt aber auch Künstler und Künstlerinnen, die erst nach 60 Jahren Erfolg haben.
Meistens wurden sie einfach erst im Alter entdeckt. Ihre stilistischen Eigenheiten, die Regelbrüche, die sie auszeichnen, haben sie aber schon viel früher entwickelt.
Martin Suter und Pascal Mercier, zwei der erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller, veröffentlichten ihre ersten Bücher erst nach dem 50. Lebensjahr.
Das heisst aber nicht, dass sie vorher nicht kreativ waren. Das waren sie einfach auf einem anderen Feld. Sie wechselten im Alter das Terrain. Das ist eine gute Strategie, um lange kreativ zu bleiben. Pascal Mercier war als analytischer Philosoph unter seinem richtigen Namen Peter Bieri eine Koryphäe. Ihm ist es gelungen, seine philosophische Weisheit in eine neue Domäne zu transferieren.
Sie machen das ähnlich, indem Sie Ihr Wissen aus der Hirnforschung in die Fotografie transferieren. Wie hilft Ihnen das für Ihren Kreativitätsprozess als Künstler?
Kunst setzt Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotion voraus. Das sind Funktionen des Gehirns, die wir heute besser als noch vor 30 Jahren verstehen. Und dieses Wissen kann und sollte man in die künstlerische Praxis einfliessen lassen, um formal und inhaltlich Neues zu schöpfen, denn gute Kunst ist Kunst, die die Kunst weiterbringt.
Hilft die viel gelobte Altersweisheit nicht bei der Kreativität?
Klar, je mehr ein Mensch erlebt hat, je mehr Wissen er sich angeeignet hat, desto mehr Stoff hat er, mit dem er sich kreativ auseinandersetzen kann. Das heisst aber nicht, dass man dadurch auch neue kreative Prozesse in Gang setzen kann.
Das heisst nichts Gutes für alte Künstler.
Sich im Alter noch einmal neu zu erfinden, ist zumindest aus neurobiologischer Sicht schwierig. Wenn man das tun will, sollte man das Genre wechseln. Also nicht mehr Schreiben, sondern zum Beispiel malen oder fotografieren. So hat man die besten Chancen, noch einmal auf eine neue Weise kreativ zu werden. Ob man die Welt damit beeindruckt, steht auf einem ganz anderen Blatt. (aargauerzeitung.ch)
Kunst macht man doch, weil es ein Bedürfnis ist, ein Weg sich auszudrücken. Wer Kunst macht, um Erfolgreich zu sein, macht keine Kunst, sondern ein «Produkt»
Die Neuroplastizität führt dazu, dass man in denen Lebensbereichen kreativ wird wo man gefordert wird. Durch Erfahrungslernen sind ältere Menschen ökonomischer unterwegs. Sie wissen eher was sie wollen, haben einen Weg eingeschlagen, den sie durch weniger Ablenkung als Jüngere beschreiten. Jüngere suchen und probieren mehr aus, Ältere verknüpfen mehr bestehendes. Beides ist kreativ und im Mix gut. Daher sind gemischte Teams kreativer.
Auf-/abbauende Neuro-Prozesse sind ein Bio-Prinzip und keine Alterserscheinung.