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Hirnforschung gnadenlos: «Mit 35 Jahren nimmt die Kreativität ab»

Die Hirnforschung ist gnadenlos: «Mit 35 Jahren nimmt die Kreativität bereits ab»

Der Neurowissenschafter Hennric Jokeit erforscht die Hirnfunktionalität von Künstlern – und macht als Fotograf selber Kunst. Er verrät, was hilft, um im Alter noch kreativ zu sein.
28.08.2023, 07:26
Raffael Schuppisser / ch media
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Wie entsteht Kreativität?
Hennric Jokeit:
Die Kreativität können wir im Frontallappen des Hirns verorten. Sie entsteht durch ein Wechselspiel von Enthemmung und Hemmung. Wenn das Hirn die Kontrolle runterfährt, sich enthemmt, werden Regelbrüche möglich. Wir ziehen dann bisher nicht gesehene assoziative Verbindungen oder es gelingt uns, Dinge von einer ganz anderen Seite zu betrachten. Das Hirn merkt dann: Da ist was Neues, das gefällt mir. Dass aus diesem Geistesblitz aber wirklich etwas Brauchbares entsteht, muss das Hirn wieder gehemmt werden, die Kontrolle zurückgewinnen. Da ist Disziplin gefragt.

Menschliches Gehirn
Die Kreativität ist im Frontallappen des Hirns verortet.Bild: Shutterstock

In welchem Alter sind wir am kreativsten?
Der Frontallappen ist jene Hirnregion, die als letzte ausreift, meistens kurz nach dem zwanzigsten Lebensjahr. Es ist aber auch jene Region, die früher als andere Funktionen Leistungsfähigkeit einbüsst. Ab etwa 60 Jahren kann das gemessen werden.

Wir haben also 40 Jahre Zeit?
Von etwa 20 bis 35 Jahre sind im Hirn die radikalsten Kreativprozesse möglich. Hier bilden sich neue Sichtweisen, die uns danach prägen. Das kann man auch soziologisch nachweisen. Der Musikgeschmack ändert sich bei den meisten Menschen ab einem Alter von 30 Jahren kaum mehr. Die meisten Nobelpreisträger erhalten ihren Preis für Entdeckungen oder Erfindungen, die sie in der vierten, seltener in der fünften Lebensdekade gemacht haben.

Es gibt aber auch Künstler und Künstlerinnen, die erst nach 60 Jahren Erfolg haben.
Meistens wurden sie einfach erst im Alter entdeckt. Ihre stilistischen Eigenheiten, die Regelbrüche, die sie auszeichnen, haben sie aber schon viel früher entwickelt.

Hennric Jokeit
Zur Person
Der Hirnforscher leitet das Institut für Neuropsychologische Diagnostik und Bildgebung der Klinik Lengg in Zürich. Ausserdem ist der 60-Jährige als Künstler tätig. Seine Fotografien wurden in mehreren Einzelausstellungen gezeigt und sind in Fotobänden erhältlich.

Martin Suter und Pascal Mercier, zwei der erfolgreichsten Schweizer Schriftsteller, veröffentlichten ihre ersten Bücher erst nach dem 50. Lebensjahr.
Das heisst aber nicht, dass sie vorher nicht kreativ waren. Das waren sie einfach auf einem anderen Feld. Sie wechselten im Alter das Terrain. Das ist eine gute Strategie, um lange kreativ zu bleiben. Pascal Mercier war als analytischer Philosoph unter seinem richtigen Namen Peter Bieri eine Koryphäe. Ihm ist es gelungen, seine philosophische Weisheit in eine neue Domäne zu transferieren.

Sie machen das ähnlich, indem Sie Ihr Wissen aus der Hirnforschung in die Fotografie transferieren. Wie hilft Ihnen das für Ihren Kreativitätsprozess als Künstler?
Kunst setzt Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Emotion voraus. Das sind Funktionen des Gehirns, die wir heute besser als noch vor 30 Jahren verstehen. Und dieses Wissen kann und sollte man in die künstlerische Praxis einfliessen lassen, um formal und inhaltlich Neues zu schöpfen, denn gute Kunst ist Kunst, die die Kunst weiterbringt.

Hilft die viel gelobte Altersweisheit nicht bei der Kreativität?
Klar, je mehr ein Mensch erlebt hat, je mehr Wissen er sich angeeignet hat, desto mehr Stoff hat er, mit dem er sich kreativ auseinandersetzen kann. Das heisst aber nicht, dass man dadurch auch neue kreative Prozesse in Gang setzen kann.

Das heisst nichts Gutes für alte Künstler.
Sich im Alter noch einmal neu zu erfinden, ist zumindest aus neurobiologischer Sicht schwierig. Wenn man das tun will, sollte man das Genre wechseln. Also nicht mehr Schreiben, sondern zum Beispiel malen oder fotografieren. So hat man die besten Chancen, noch einmal auf eine neue Weise kreativ zu werden. Ob man die Welt damit beeindruckt, steht auf einem ganz anderen Blatt. (aargauerzeitung.ch)

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57 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Statler
28.08.2023 09:11registriert März 2014
«Ob man die Welt damit beeindruckt, steht auf einem ganz anderen Blatt» - Ist das denn wichtig?
Kunst macht man doch, weil es ein Bedürfnis ist, ein Weg sich auszudrücken. Wer Kunst macht, um Erfolgreich zu sein, macht keine Kunst, sondern ein «Produkt»
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Zeit_Genosse
28.08.2023 08:50registriert Februar 2014
Etwas dünn der Beitrag, dafür eher viel Promo für den Spät-Künstler.

Die Neuroplastizität führt dazu, dass man in denen Lebensbereichen kreativ wird wo man gefordert wird. Durch Erfahrungslernen sind ältere Menschen ökonomischer unterwegs. Sie wissen eher was sie wollen, haben einen Weg eingeschlagen, den sie durch weniger Ablenkung als Jüngere beschreiten. Jüngere suchen und probieren mehr aus, Ältere verknüpfen mehr bestehendes. Beides ist kreativ und im Mix gut. Daher sind gemischte Teams kreativer.

Auf-/abbauende Neuro-Prozesse sind ein Bio-Prinzip und keine Alterserscheinung.
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Ökonometriker
28.08.2023 08:27registriert Januar 2017
Interessante These. Weiss jemand, wie gut das Feld erforscht ist? Nimmt die Kreativität auf Grund naturgegebener Prozesse ab oder sind die meisten Menschen einfach ab einem gewissen Alter sesshaft, haben ihren Lebensstil und ihren Alltag und trimmen ihr Gehirn im Rahmen dessen auf Effizienz, wodurch eben Kreativität abnimmt? Gerade im neurologischen Bereich ist ja oft von "use it or lose it" die Rede.
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