Marine Le Pen hat ihr Urteil gar nicht mehr abgewartet. Anderthalb Stunden lang hatte sie zugehört, was das Gericht ihr und den 24 Mitangeklagten zur Last legt. Immer weiter war sie auf ihrer Bank nach vorn gerutscht, immer deutlicher hatte sie mit dem Kopf geschüttelt. Als schliesslich feststand, was sie erwarten würde, tuschelte sie kurz mit ihrem Anwalt. Dann stürmte Le Pen aus dem Saal. Wortlos, fassungslos, offenbar tief getroffen.
In Paris wurde heute Rechtsgeschichte geschrieben, man kann es nicht anders sagen. Politikerinnen und Politiker stehen in Frankreich häufiger vor Gericht. Aber noch nie ist es vorgekommen, dass die Anführerin der erfolgreichsten Partei des Landes, die vielleicht aussichtsreichste Kandidatin für die nächste Präsidentschaftswahl, von ebendieser Wahl ausgeschlossen wird. Genau das haben die beiden Richterinnen und ein Richter des Pariser Tribunals an diesem Montag entschieden: Marine Le Pen darf in den kommenden fünf Jahren bei keiner Wahl antreten. Und: Dieser Ausschluss gilt mit sofortiger Wirkung.
Selten, wenn überhaupt je, hatte ein Urteil in der jüngeren Geschichte des Landes so weitreichende politische Folgen. Denn mit einem Mal steht plötzlich vieles infrage: die Zukunft Le Pens, die kommende Wahl, die Regeln des Rechtsstaats, die Akzeptanz der Demokratie.
Dass Marine Le Pen sich schuldig gemacht hat, steht ausser Frage. Von 2004 bis 2016 hat ihre Partei, damals hiess sie noch Front National (FN), im Europaparlament öffentliche Gelder, die eigentlich für die parlamentarische Arbeit vorgesehen waren, in die Kassen der Partei gelenkt. Marine Le Pen hatte dieses System von ihrem mittlerweile verstorbenen Vater übernommen und über viele Jahre fortgeführt, sogar intensiviert. Insgesamt wurden auf diesem Weg mehr als 4 Millionen Euro, die aus Steuermitteln stammen, zweckentfremdet. Das Gericht sieht darin nicht nur einen Missbrauch öffentlicher Gelder. Le Pen und ihre Partei hätten darüber hinaus die Wählerinnen und Wähler getäuscht und sich im demokratischen Wettbewerb einen unlauteren Vorteil verschafft.
Das alles lässt sich nicht bestreiten. Genau sowenig wie der Vorsatz, den das Gericht Le Pen und den anderen Verurteilten zur Last legt. Die Beweise, die die Ankläger zusammengetragen haben, sind eindeutig. Aus Mails und Dokumenten geht hervor, dass die Betroffenen sich selbst darüber im Klaren waren, dass sie gegen bestehende Gesetze verstiessen. Es ist ein gutes Zeichen dafür, dass der französische Rechtsstaat funktioniert, wenn die Abgeordneten und Mitarbeitenden, die sich schuldig gemacht haben, nun verurteilt werden, auch wenn die Delikte schon viele Jahre zurückliegen.
Trotzdem wirft die Entscheidung der Richterinnen und Richter Fragen auf, die sich nicht einfach beantworten lassen. Sie betreffen die Verhältnismässigkeit der Strafe und die politische Klugheit des Urteils.
Wer verurteilt wird, kann gegen die Entscheidung in Berufung gehen. Das ist ein ehernes Prinzip des Rechtsstaats. Auch der Anwalt von Marine Le Pen hat bereits angekündigt, jetzt diesen Weg zu gehen. Trotzdem gilt der Ausschluss von den nächsten Wahlen mit sofortiger Wirkung – eine scheinbar widersprüchliche Rechtskonstruktion. Das französische Strafrecht sieht diese Möglichkeit zwar ausdrücklich vor, etwa um Wiederholungstaten zu vermeiden. Dennoch wäre es klüger gewesen, das Gericht hätte sich damit begnügt, die Strafe ohne sofortige Vollstreckung («exécution provisoire») zu verhängen.
Jordan Bardella, der Vorsitzende des Rassemblement National (RN), spricht nun davon, nicht nur Marine Le Pen sei verurteilt worden. Auch die französische Demokratie werde «exekutiert». Das ist überzogen, trotzdem reicht das Unverständnis über dieses Urteil weit über die Anhängerinnen und Anhänger Le Pens hinaus. Selbst der heutige Justizminister Gérald Darmanin hatte in der Vergangenheit gewarnt: Le Pen könne man nicht vor Gericht schlagen, man müsse sie in Wahlen bekämpfen.
Die Gegner des Rassemblement National (RN) sollten sich deshalb nicht zu früh freuen. Zwar könnte die politische Karriere Marine Le Pens mit dem heutigen Urteil vorerst enden. Aber die Positionen, die die Nationalistin vertritt, und die politischen Energien, die sie in den vergangenen Jahren getragen haben, die Unzufriedenheit und Wut vieler Menschen, werden nicht verschwinden. Im Gegenteil, je mehr Le Pen als Opfer einer unverhältnismässigen Justiz erscheint, desto grösser könnte die Wut werden.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Ihre Positionen scheinen sich je nach politischem Kontext zu verschieben 😁:
Als die Regelung (nach der sie heute verurteilt wurde) 2023 einen politisch Verbündeten traf, war sie für eine Abschaffung des Gesetzes.
Wahrscheinlich ahnte sie damals schon, dass ihre Straftaten eine sunwählbsrkeit zur Folge haben könnte.