Marine Le Pen betrat das Gericht mit einem Lächeln; bevor sie sich in dem vollgepferchten Saal in die erste Reihe setzte, dankte sie den Anwälten, die sie zwei Monate lang durch einen aufreibenden Prozess begleitet hatten. Doch als Gerichtspräsidentin Bénédicte de Perthuis das Urteil zu verlesen begann, versteinerten sich die Gesichtszüge der Angeklagten zusehends.
Dann fiel das eindeutige Verdikt: Le Pen und zahlreiche prominente Vertreter des Rassemblement National (RN) sind schuldig der Veruntreuung: Von 2004 bis 2016 sollen sie Gelder des EU-Parlamentes in Strassburg zur Finanzierung der Pariser Parteizentrale abgezweigt haben. Der Deliktbetrag beläuft sich auf 4,1 Millionen Euro.
Le Pen nahm diese Ausführungen kopfschüttelnd entgegen. Sie wirkte zunehmend genervt, doch die Gerichtsvorsteherin fuhr ungerührt fort und erklärte: «Madame Le Pen war das Herz dieses Systems.» Sie habe mit den Geldern auch ihren Leibwächter und ihre persönliche Sekretärin fürs Kinderhüten entlöhnt.
Sogar die Höhe dieser illegalen Saläre habe sie festgelegt, ohne auch nur ihre EU-Abgeordneten in Strassburg zu konsultieren. Nur einen Punkt gesteht das Gericht der langjährigen RN-Vorsteherin zu: Sie soll «keine persönliche Bereicherung betrieben», also nicht in die eigene Tasche gearbeitet haben.
Le Pen erhält wie auch ihre Mitangeklagten harte Strafen: Vier Jahre Haft, davon zwei Jahre mit einer Fussfessel. Dazu 100'000 Euro Busse und – vor allem – fünf Jahre Unwählbarkeit. Kleines, aber zentrales Detail: Die Unwählbarkeit wird mit einer «provisorischen», das heisst sofortigen Ausführung garniert; ein Berufungsprozess hätte also keine aufschiebende Wirkung.
Die dramatische Konsequenz: Le Pen kann bei den Präsidentschaftswahlen 2027, bei denen sie als Favoritin gehandelt wurde, nicht teilnehmen. Für die Verurteilte war das zu viel: Noch während Gerichtspräsidentin am Verlesen des Urteils war, erhob sich Le Pen wütend und verliess das Gerichtsgebäude im Blitzlichtgewitter der Kameras.
Der vorzeitige und sehr spektakuläre Auszug aus dem Gericht war ein Affront gegenüber der Justiz: Le Pen verwandte sich damit gegen die angebliche «politische Instrumentalisierung» des Gerichtsfalles, wie ihr Parteifreund Louis Aliot, der ebenfalls verurteilte Bürgermeister von Perpignan, erklärte.
Wie spontan oder vorbereitet der Eklat im Gerichtssaal war, weiss nur Le Pen. Noch am Morgen hatte sie sich «gelassen» gegeben. Zwei Monate lang hatten ihre Anwälte in einer einmütigen Realitätsverweigerung jede Veruntreuungsabsicht bestritten. Die RN-Gründerin, die von Beruf selber Anwältin ist, wurde von der Härte des Verdiktes offensichtlich überrascht und getroffen. Das zeugt nicht unbedingt von einem sicheren Urteilsvermögen: Die meisten Juristen hielten die Beweise gegen Le Pen für erdrückend.
Prozessbesucher staunten während der zweimonatigen Verhandlung, wie leichtfertig die Rechtspopulistin die Veruntreuung der EU-Gelder organisiert hatte, obwohl sie sich im Europaparlament unter politischer Aufsicht durch andere Parteien wusste.
Die Verlesung des Urteils war noch nicht zu Ende, da ergingen auch schon die erbosten Reaktionen aus der Parteizentrale, in die sich Le Pen zurückgezogen hatte. Ihre rechte Hand Jordan Bardella (29), der als einer von wenigen Parteispitzen nicht angeklagt war, weil er in der fraglichen Zeit zu jung gewesen war, twitterte: «Nicht nur Marine Le Pen ist ungerecht verurteilt – auch die französische Demokratie ist exekutiert worden.»
Le Pen hatte schon nach den Anträgen der Staatsanwaltschaft erklärt, ihr drohe ein «politisches Todesurteil», wenn sie an der Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen von 2027 gehindert werde.
Das Urteil wird sie zweifellos anfechten. Die Unwählbarkeit als solche liegt allerdings nicht im Ermessen des Gerichts, sie ist laut französischem Recht eine automatische Folge der Verurteilung. Hingegen wird Le Pen versuchen, die Dauer der Unwählbarkeit auf ein Jahr zu drücken. Dafür gibt einen Präzedenzfall: Der gaullistische Ex-Premier Alain Juppé hatte 2004 wegen ähnlicher Scheinjobs in erster Instanz zehn Jahren Unwählbarkeit erhalten; das Berufungsgericht senkte diese Dauer dann aber auf ein Jahr, sodass Juppé bald wieder in die französische Politik zurückkehren und auch als Präsidentschaftskandidat antreten konnte.
Trotz dieser – kleinen – Chance für Le Pen standen ihre Anhänger am Montag unter Schock. «Man will sie an der Kandidatur hindern», sagte eine Passantin in der RN-Hochburg Hénin-Beaumont in Nordfrankreich. Die politischen Gegner bemühen sich dagegen, das Gerichtsurteil als unpolitischen Justizentscheid zu würdigen. Sogar der scharfe Le Pen-Kritiker Eric Coquerel von den linken «Unbeugsamen» plädierte dafür, dass Le Pen weiterhin alle Rechtsmittel zustehen müssten. Nur so lasse sich vermeiden, dass die Verurteilte sich als Opfer einer parteiischen Justiz darstellen könne. (bzbasel.ch)
Sie hat öffentliche Gelder für Zwecke missbraucht, für die sie sonst eigenes Geld hätte einsetzen müssen. Sie hat die Gelder in dem Sinne nicht in die eigene Tasche gewirtschaftet, aber die Ausgaben aus der eigenen Tasche minimiert - was de fakto genau gleich einer persönlichen Bereicherung entspricht.
Natürlich sollten ihr alle Rechtsmittel zustehen. Aber als "Opfer einer parteiischen Justiz" wird sie sich am Ende so oder so darstellen. Das übliche rechtspopulistische Drehbuch eben: Es sind immer die anderen Schuld.