Am Freitagnachmittag stehen Lorenz Freunde, Clovis und Hindo, in der Achternstrasse in Oldenburg, zwischen Handy- und Dekoladen. Dort, wo Lorenz A. erschossen wurde. Dort, wo jetzt Blumen und Kerzen den Boden bedecken, wo Kinderfotos von Lorenz in Bilderrahmen stehen. Clovis, Jurastudent, braune Kappe, schwarze Baggy-Jeans, hat weisse Rosen gekauft und legt sie zu einem Foto von seinem Freund. Er tritt zurück, faltet die Hände ineinander. Hindo legt die Hände übers Gesicht, dann flüstern beide ein stilles Gebet.
Für Lorenz sind sie aus allen Ecken Deutschlands nach Oldenburg angereist: Göttingen, Kassel, Leipzig, Hamburg und Essen. 12, Freunde, drei Autos. Clovis, Hindo, Benjamin, Chris, Jonathan. Manche von ihnen stellen sich vor, wollen sprechen, manche von ihnen wollen für sich sein, still trauern.
So wie tausende weitere Menschen, die nach Oldenburg gekommen sind. Die meisten kannten Lorenz nicht. Clovis, Benjamin, Hindo, Chris und Jonathan schon. Manche haben Lorenz vor vier Jahren zum letzten Mal gesehen, als er noch in Göttingen lebte. Als er noch dort Basketball spielte, BG Göttingen, U19, Flügelspieler. Der Verein hat viel Potenzial in Lorenz gesehen, ihn nach Göttingen geholt. Lorenz hat schnell Anschluss gefunden. Nahezu täglich haben sie sich gesehen. Nach der Schule oder am Abend in der Bar, warm eingepackt unter Heizstrahlern bei Fanta oder Eistee.
Clovis sagt: «Lorenz hat wie ein Puzzlestück bei uns reingepasst.»
Und jetzt ist Lorenz tot.
Lorenz A. wurde in der Nacht auf Ostersonntag von einem 27-jährigen Polizisten erschossen.
Mindestens drei Schüsse trafen Lorenz A. Von hinten. In den Oberkörper, in die Hüfte, in den Kopf.
Lorenz A. war Oldenburger. In zwei Wochen wäre er 22 Jahre alt geworden. Die Haare trug er in kurzen Dreadlocks. Lorenz A. war Schwarz.
Noch ist wenig sicher über das, was in der vergangenen Samstagnacht zwischen Lorenz A. und der Polizei geschehen ist. Noch wertet die Staatsanwaltschaft Überwachungskameras, Audiomitschnitte, beschlagnahmte Handys, den Polizeifunk und Zeugenaussagen aus. Die Bodycams der Polizisten waren ausgeschaltet.
So viel ist bekannt: Lorenz A. wollte ins Pablo's, einen Club in der Oldenburger Altstadt. Die Türsteher liessen ihn nicht rein. Im Pablo's sagt man, Lorenz A.s Kleidung hätte nicht zum Club gepasst. Es kam zu einem Streit. Lorenz A. sprühte Reizgas auf die Türsteher und lief davon. Er drohte denen, die ihm hinterherrannten, mit einem Messer, so sagt es die Staatsanwaltschaft Oldenburg. In einer Seitenstrasse um die Ecke vom Pablo's traf Lorenz A. an diesem Abend wohl zum ersten Mal auf Polizisten. Er rannte weiter, noch mehr Polizisten, die «zwischenzeitlich eingetroffen» waren. Lorenz A. lief auf sie zu und an ihnen vorbei, wobei er mit Reizstoff sprühte, so sagt es die Staatsanwaltschaft Oldenburg. Dann schoss ein 27-jähriger Polizist fünfmal in Richtung von Lorenz A. Er traf ihn von hinten in den Oberkörper, in die Hüfte, in den Kopf. Ein vierter Schuss soll den Oberschenkel gestreift haben. Er starb im Krankenhaus an seinen Verletzungen.
Ob Lorenz A. vor den Schüssen gewarnt wurde, ob er sich widersetzte, ob der Polizeibeamte Pfefferspray abbekommen hatte und aus welcher Position er schoss, dazu ermittelt die Staatsanwaltschaft Oldenburg. Aber sie sagt schon jetzt: Dafür, dass Lorenz A. den Polizisten in der «konkreten Situation» vor den Schüssen mit seinem Messer bedroht habe, gebe es derzeit keine Anhaltspunkte. Der Polizist wurde vorübergehend vom Dienst suspendiert, ein Ermittlungsverfahren wegen Verdachts des Totschlags eingeleitet. Neben der Staatsanwaltschaft soll es die benachbarte Polizeiinspektion in Delmenhorst/Oldenburg-Land führen, aus Neutralitätsgründen. Wie oft in solchen Fällen.
Nach dem Tod von Lorenz A. gründeten Familie und Freunde eine Initiative: Gerechtigkeit für Lorenz. Sie riefen auf, zu demonstrieren. Am Freitag kamen bis zu 10'000 Menschen nach Oldenburg. Sie fordern lückenlose Aufklärung. Clovis, Benjamin, Hindo und Chris sind gekommen, um ihrem toten Freund Respekt zu zeigen. Clovis sagt, das sei für alle das Wichtigste gewesen. Dass sie da sind, dass da auch Menschen sind, die wissen, wer er war: einer von ihnen.
Als die Demo um 18 Uhr beginnt, stehen die Freunde von Lorenz zusammen in der Menge, Angehörige und Freunde von Lorenz A. treten nacheinander auf die Bühne, sie beschreiben Lorenz A. als sensiblen, starken, offenherzigen Menschen. Da ist eine Freundin der Familie, die für Lorenz Mutter spricht, weil Lorenz Mutter selbst nicht kommen kann. «Sie kann nicht schlafen, nicht essen, nicht trinken. Ihr wurde alles genommen», sagt sie. Ihre Stimme bricht, als sie sich bei Lorenz' Freunden bedankt, die am Sonntagmorgen das Blut vom Boden in der Oldenburger Innenstadt geschrubbt haben. Da ist Issa, lockige Haare, dunkle Ringe unter seinen Augen, der versucht, seiner Verzweiflung Ausdruck zu verleihen: «Lorenz war kein Fehler, er war kein Problem. Ich will nicht, dass er vergessen wird.»
Immer wieder werden die Namen der Schwarzen Menschen vorgelesen, die in den vergangenen Jahren durch Polizeigewalt gestorben sind. Angehörige von Mouhamed Dramé und Oury Jalloh sprechen von struktureller Kontinuität.
Die Geschichte der Osternacht in Oldenburg könnte die Geschichte einer dramatischen Eskalation sein, an deren Ende die Frage steht, warum ein 27-jähriger Polizist überhaupt geschossen hat, und warum fünfmal. Dafür gibt es die Staatsanwaltschaft, die Richter, die Zeugen. Es gibt aber auch Menschen, für die das Ende dieser Geschichte kaum eine Rolle spielen wird, weil sie ihren Mannschaftskollegen, ihren Freund, ihren Sohn verloren haben. Oder weil sie sich bestätigt sehen in ihrer Angst: dass Lorenz A. nicht gestorben ist, weil ein Polizist entschieden hat, zu schiessen – aus Notwehr oder aus Vermessen. Sondern, dass Lorenz A. erschossen wurde, weil er ein Schwarzer Mann war.
Die Freunde aus Göttingen reichen eine Litschi Ice Vape herum. Sie stehen eng zusammen. Sie alle tragen schwarze Kleidung, drei kleine Schilder haben sie gebastelt. «Black Lives Matter», «Rest in Peace Lorenz» und «Justice for Lorenz». Sie blödeln, rempeln sich herum. Als würden sie es sonst nicht aushalten.
Als sich der Demonstrationszug in Bewegung setzt, reichen sie Bilder von Lorenz auf dem Handy herum.
«Lorenz' Lachen war ansteckend. Er hat immer viel gelacht», sagt Hindo.
«Er hat so viel Potenzial gehabt», sagt Chris.
«Mit Lorenz verbinde ich so viele lustige Situationen», sagt Clovis.
«Er hat mich motiviert, das Beste aus mir herauszuholen», sagt Jonathan.
Es ist das erste Mal seit drei Jahren, dass die alte Göttinger Gruppe wieder zusammengekommen ist. Die meisten von ihnen sind Schwarz – genau wie Lorenz. Für die Freunde ist klar: Lorenz ist gestorben, weil er Schwarz war.
Rassistische Polizeigewalt festzustellen, das ist in Deutschland nahezu unmöglich, weil die Polizei die Ermittlungen dazu meist gegen sich selbst führen müsste. Sie müsste sich selbst belasten.
Rassismus unter Polizisten ist aber kein Einzelfall. Etwa jeder dritte Polizeibeamte hat binnen eines Jahres rassistische Äusserungen von Kollegen wahrgenommen. Das geht aus einer 2024 erschienenen, von der Bundesregierung beauftragten Polizeistudie hervor. Untersuchungen dazu, ob Polizisten in Deutschland zügiger oder ungenauer schiessen, wenn ihr Gegenüber Schwarz ist, gibt es nicht. Aber eine belastende Annahme aus den USA: Studien zum sogenannten shooters bias legen nahe, dass Polizisten dort in Gefahrensituationen eher schneller eine Waffe ziehen, schneller schiessen, wenn ihr Gegenüber nicht weiss ist. In Deutschland wurde lediglich mit 230 Polizisten aus Hamburg getestet, ob sie schneller auf Menschen mit sogenanntem arabischen Aussehen als auf weisse Menschen schiessen würden. Die Studienergebnisse von 2016 ergaben, dass sie das, zumindest in einer Simulation, täten.
Die Frage, ob der Polizist in Oldenburg auch fünfmal auf Lorenz A. geschossen hätte, wenn er weiss gewesen wäre, lässt sich durch eine Theorie allein nicht beantworten.
Als George Floyds Tod vor fünf Jahren die «Black Lives Matter»-Bewegung auslöste, gingen auch die Göttinger Freunde auf die Strasse. «Als Schwarzer hat mich das damals getroffen», sagt Chris. «Aber jetzt, wenn du selbst einen kennst, dann spürst du den Schmerz. Und du fühlst dich machtlos.»
«No Peace, No Justice», ruft ein Redner von der Bühne aus. «No Peace, no Justice», brüllen die Jungs zurück. Fünfmal grölt die Menge mit. Dann setzt Clovis zum sechsten Mal an, auf halber Strecke stoppt seine Stimme. «Peinlich», sagt er, als niemand mehr mitbrüllt.
Benjamin hat eine Rede vorbereitet. Halten konnte er sie nicht, Probleme mit der Deutschen Bahn. Er wollte über die alten Zeiten in Göttingen sprechen, Lorenz' Art und was für ein guter Mensch er gewesen sei. «Was wäre gewesen, wenn es ein Weisser gewesen wäre?», fragt Benjamin.
In Niedersachsen sterben jährlich etwa ein bis drei Menschen durch Polizeischüsse. Einer der zwei Männer, die vergangenes Jahr in Nienburg von der Polizei erschossen wurden, kam aus Gambia. Er war 46 Jahre alt und hatte mit einem Messer in die Richtung zweier Polizisten gestochen.
2024 wurden in Deutschland 22 Menschen von der Polizei erschossen, mehr als doppelt so viele wie im Vorjahr. 2025 sind es bereits elf.
Das Niedersächsische Polizeigesetz bestimmt, dass Schusswaffen gegen Menschen nur im äussersten Notfall eingesetzt werden dürfen. Um Gefahr für Leib und Leben abzuwehren. Insbesondere dann, wenn der andere eine Schusswaffe oder Explosivmittel hat und sie unmittelbar einsetzen könnte. Um eine Person aufzuhalten, die aus dem Gewahrsam flieht. Und um eine Person aufzuhalten, die «dringend verdächtigt wird», ein Verbrechen begangen zu haben, und vor der Polizei flieht.
Im August 2024 wurden auf einem Stadtfest in Solingen bei einem Messerangriff drei Menschen getötet. Im Januar 2025 wurden in Aschaffenburg bei einem Messerangriff zwei Menschen getötet. Im Mai 2024 wurde in Mannheim ein Polizist von einem Islamisten erstochen.
Nach Informationen des Spiegels liefen gegen Lorenz A. Ermittlungsverfahren unter anderem wegen Körperverletzung, Widerstand gegen Polizeibeamte, Raub und Nötigung. Die Staatsanwaltschaft Oldenburg gibt auf Nachfrage von ZEIT ONLINE an, «aus Gründen des Persönlichkeitsrechts» zu «etwaig geführten» Ermittlungsverfahren gegen Lorenz A. keine Angaben machen zu können. Der Anwalt der Familie will sie gegenüber ZEIT ONLINE weder bestätigen noch dementieren.
Was denkt ein Polizist, bevor er schiesst?
Als die Sonne über Oldenburg untergeht, ist der Demonstrationszug fast wieder am Pferdemarkt angekommen. Schweigeminute. Clovis, Hindo und Benjamin stehen zusammen, die Göttinger Freunde, einer klopft dem anderen auf die Schulter. Blicke nach unten, Blicke ins Leere.
Clovis sagt: «Ich fahre mit einem warmen Gefühl nach Hause.» Trotz der Trauer, der Resignation, der Angst vor dem System. Lorenz habe heute alle wieder zusammengebracht. «Wenn mir etwas passiert, dann wären auch alle wieder da. Das ist ein tröstendes Gefühl.»
Die Initiative «Gerechtigkeit für Lorenz» fordert «lückenlose Aufklärung» und eine «unabhängige Untersuchung.» Gegenüber ZEIT ONLINE sagt der Sprecher der Initiative, es sei problematisch, dass ausgerechnet die Polizeiinspektion Delmenhorst ermitteln soll. Im März 2021 starb dort der damals 19-jährige Qosay K., nachdem er in Polizeigewahrsam zusammengebrochen war. An der Verhältnismässigkeit des Polizeieinsatzes gibt es bis heute Zweifel, ermittelt wurde erst nach einer Klage der Familie. Das Verfahren wurde eingestellt.
Die Initiative sieht in dem, was in Delmenhorst passiert ist, ein System: Fälle, in denen People of Color bei Polizeieinsätzen oder in Polizeigewahrsam sterben, würden folgenlos bleiben, nicht lückenlos aufgeklärt werden. «Wir wollen Gerechtigkeit im Sinne von lückenloser Aufklärung. Das Ganze muss als strukturelles Problem gesehen werden. Polizeigewalt ist eine strukturelle Sache. Wir können nicht immer von Einzelfällen sprechen.»
In den sozialen Medien wird sich mit Lorenz A. nicht nur als Opfer solidarisiert, er wird auch ein Täter genannt. Er wird rassistisch beleidigt. «Ein Dankeschön dem Polizisten für seinen Einsatz.» 1'500 Likes. «White lives matter.» Blaue Herz-Emojis und Deutschlandflaggen. «Es war ein Afrikaner», «Alles richtig gemacht», «1:0 für Deutschland». Zur Kundgebung in Oldenburg kündigte sich auch ein bekannter rechter Streamer an. Er erschien tatsächlich und filmte sich dabei, wie er von Demonstranten angegangen wurde. Die Polizei musste einschreiten.
Nach der Demonstration wollen die Freunde von Lorenz A. ein letztes Mal zum Tatort zurückkehren. Vom Pferdemarkt sind es zehn Gehminuten zu dem Ort, an dem Lorenz A. erschossen wurde. Hunderte Kerzen leuchten in die Nacht. Blumen, handgeschriebene Briefe, Kinderbilder liegen auf dem Boden. Mehrere Bahnen Tesafilm halten Plakate an den Wänden. Die Demo verklingt, am Tatort herrscht völlige Stille.
Einer der Freunde geht nach vorne, legt sein Plakat nieder. Er bricht in Tränen aus. Seine Freunde halten ihn, stehen vor dem Tatort ihres Freundes Lorenz zusammen, Arm in Arm. Am Ende kommt er doch: der Schmerz.
Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.
Ich hoffe dass sauber ermittelt wird und, falls angezeigt, entsprechend geurteilt wird.
Also für mich tönt das schon nicht nach "ein ganz normaler Abend". Tragisch, auf jeden Fall. Weshalb implizit von Polizeigewalt gesprochen wird, erschliesst sich mir allerdings nicht.
Dabei habe ich mehrmals erlebt wie jemand ein Messer gezogen hat (meistens weil er sich in seinem Stolz verletzt gefühlt hat) und vor allem gelernt, dass sich (fast) jede Situation mit viel Geduld und Respekt vor dem Gegenüber (egal wie beschissen es sich verhält) lösen lässt.