Das ist Racial Profiling: verdachtsunabhängige Kontrollen aufgrund der Hautfarbe, Herkunft oder Erscheinung. Diese Szene ist mehr als nur eine Begegnung – sie ist ein Sinnbild für den Alltag vieler Menschen in der Schweiz, die wegen ihres Aussehens ins Fadenkreuz der Polizei geraten. Erlebt hat das ein junger Schwarzer Mann im Kanton Zürich, wie er gegenüber watson erzählt. Eine Anzeige hat er nie erstattet. Wer hätte ihm geglaubt, wenn seine Aussage gegen die der Polizei stehen wird?
Es ist eine Form von Rassismus, den Aussagen der Direktbetroffenen die Legitimität abzusprechen. Das ist wissenschaftlich belegt. Doch auch das Rechtssystem erschwert es den Opfern, sich gegen Racial Profiling zu wehren. Denn Schweizer Gerichte prüfen nicht wirksam, ob bei einer Polizeikontrolle diskriminierende Gründe – wie Rassismus – eine Rolle spielen.
Zu diesem vernichtenden Verdikt kam Anfang 2024 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), als er die Schweiz wegen eines Falles von Racial Profiling verurteilte. Ein Mann gewann gegen ein Land. Die Kontrolle, welche die Zürcher Stadtpolizei am 5. Februar 2015 bei Mohamed Wa Baile durchgeführt hatte, verstosse gegen das Diskriminierungsverbot und war menschenrechtswidrig. Doch wie verbreitet sind rassistische Polizeikontrollen hierzulande wirklich?
Diese Entschuldigungs-Mail, die watson vorliegt, musste Khalat* einfordern, nachdem er Opfer von Racial Profiling wurde. Denn als sich herausstellte, dass die Polizei jemand ganz anderes suchte, hatte er bereits Handschellen um. Die einzige Gemeinsamkeit, die er und die gesuchte Person hatten, war die Hautfarbe.
Für Khalat war das der traurige Höhepunkt einer Reihe von rassistischen Polizeikontrollen, die er in seinem Leben bereits aushalten musste. «Obwohl ich perfekt Schweizerdeutsch kann, werde ich am Zürcher Hauptbahnhof oft von Polizisten auf Englisch angesprochen, da sie denken, ich sei ein Flüchtling.» Das war er zwar vor 20 Jahren, als er als Dreijähriger mit seiner Familie aus dem Jemen in die Schweiz floh. Doch die Polizei erinnert ihn bis heute immer wieder an diese Vergangenheit, als wäre sie nie vergangen.
Das ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines grösseren Problems: Institutioneller Rassismus zeichnet sich dadurch aus, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Hautfarbe durch unbewusste oder bewusste Praktiken in unserer Gesellschaft systematisch benachteiligt werden. Eine Studie der Universität Neuenburg, erstellt für die eidgenössische Fachstelle für Rassismusbekämpfung, dokumentierte diese Muster bereits 2017. Doch im Alltag der Betroffenen hat sich seither wenig geändert.
Khalat ist mit seinen Erfahrungen nicht allein, wie die grosse Videoreportage von watson zeigt.
Eine Gemeinsamkeit, die alle Betroffenen von Racial Profiling haben, mit denen watson gesprochen hat, ist: Niemand ist juristisch gegen das Erlebte vorgegangen. Auch eine Beratung hat niemand in Anspruch genommen – obwohl es 28 Anti-Rassismus-Beratungsstellen im Land gibt.
Die oft von den Kantonen organisierten Stellen bieten kostenlose Ratschläge an, wenn sich jemand rassistischer Diskriminierung ausgesetzt sieht. Im Vordergrund steht die Dokumentierung rassistischer Vorfälle. Den Opfern wird aber auch aufgezeigt, wie sie sich zur Wehr setzen können und welche juristischen Mittel ihnen zur Verfügung stehen. Teilweise stellen sie auch Nachforschungen an und versuchen zwischen den Opfern und den Institutionen oder Personen, von denen jene sich rassistisch diskriminiert fühlen, zu vermitteln.
2023 dokumentierten die Beratungsstellen schweizweit 876 Fälle von rassistischer Diskriminierung, die bei ihnen gemeldet wurden. Lediglich 39 Fälle betreffen Racial Profiling. In den vergangenen vier Jahren liessen sich im Schnitt 36 Personen pro Jahr zu Racial Profiling beraten. Die tiefe Zahl könnte auch damit zusammenhängen, dass viele kantonale Stellen erst wenige Jahre alt und relativ unbekannt sind. Eine Umfrage von watson bei zwölf kantonalen Anti-Rassismus-Beratungsstellen bestätigt aber, dass meistens spätestens nach der Erstkonsultation Schluss ist. Warum ist das so?
Mehrere andere Beratungsstellen schreiben, dass die «Hürde, etwas gegen die Polizei zu machen, sehr hoch» sei. Einige Stellen raten den Opfern sogar ab, sich juristisch gegen Racial Profiling zu wehren:
«Es hat noch nie jemand von unseren Klienten einen Vorfall von Racial Profiling zur Anzeige gebracht. Wir raten in der Beratung auch eher davon ab», schreibt Stopp Rassismus, die Beratungsstelle beider Basel. Als Gründe nennt die Beratungsstelle «meist fehlende Beweise», die «Machtverhältnisse» und die «psychische Belastung».
Doch das ist nur die Perspektive der Beratungsstellen, die selbst oft kritisiert werden. So haben linke Politiker etwa der Berner Beratungsstelle Gggfon – Gemeinsam gegen Gewalt und Rassismus – vorgeworfen, bei Racial Profiling Täter-Opfer-Umkehr zu praktizieren, wie hauptstadt.be schreibt. Auch die Anti-Rassismus-Expertin und Zürcher SP-Kantonsrätin Mandy Abou Shoak, deren Familie selbst schon rassistische Polizeikontrollen erlebt hat, äussert in der watson-Videoreportage scharfe Kritik an den bestehenden Beratungsstrukturen.
Einen juristischen Erfolg gegen eine rassistische Polizeikontrolle in der Schweiz konnte bisher nur die Allianz gegen Racial Profiling erzielen. Sie begleitete Mohamed Wa Baile durch alle Schweizer Instanzen bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Doch dieser Sieg hatte einen hohen Preis:
80'000 Franken machten allein der Gerichtsprozess und die Anwaltskosten aus; rechnet man die Gratisarbeit mit ein, kostete der Fall eine Million Franken, wie Mitbegründer und ehemaliges Mitglied der Allianz, Tarek Naguib, erklärt. Lediglich rund 20'000 Franken erstattete der EGMR der Non-Profit-Organisation zurück.
Laut Naguib hätten die Strafverfolgungs-, Verwaltungs- und Gerichtsbehörden alles daran gesetzt, die Polizeikontrolle von Wa Baile so darzustellen, als hätte sie nichts mit Diskriminierung zu tun. «Die zuständigen Juristen waren offensichtlich nicht bereit, sich mit Rassismus zu befassen. Dies hängt damit zusammen, dass auch die Behörden von Rassismus geprägt sind und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Rassismus noch in den Kinderschuhen steckt.»
Doch oftmals beginne das Problem, sich nicht mit Rassismus befassen zu wollen, schon zuvor:
Etwa, dass eine Polizeikontrolle «verfahrensgemäss» abgelaufen sei oder sich die kontrollierte Person «verdächtig verhalten» habe.
Für die Opfer von Racial Profiling ist der Weg des Widerstands steinig, erklärt Naguib. Sie riskieren Gegenanzeigen wegen angeblicher Nichtbefolgung von polizeilichen Weisungen oder eine Rückstufung ihres Aufenthaltstitels. Auch das Einbürgerungsgesuch kann sistiert, Sozialhilfebeiträge gekürzt oder der soziale Druck enorm werden. So habe Mohamed Wa Baile viele Drohbriefe erhalten und wurde etwa vor der Kita seiner Kinder von Passanten beschimpft, weil er sich gegen Racial Profiling wehrte.
Wegen all diesen Hindernissen sagt Tarek Naguib:
Damit Betroffene effizient gegen Racial Profiling vorgehen könnten, brauche es unabhängige Beratungsstellen, schweizweite klare gesetzliche Vorgaben, wann und wie eine Polizeikontrolle stattfinden dürfe, und eine saubere statistische Erfassung von Polizeikontrollen und ihren Hintergründen. Naguib arbeitet deshalb in seiner Funktion als Koordinator der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz an einem Massnahmenkatalog, wie Bund, Kantone und Gemeinden das Problem effektiv angehen solle. Er sagt: «Die Behörden scheinen nach wie vor das Credo zu verfolgen: Was nicht sein darf, kann nicht sein.»
Doch Rassismus endet nicht vor der Tür der Polizeiwache.
watson konnte mit einem Schwarzen Polizisten sprechen, der anonym bleiben möchte. Er sagt, er erlebe höchst selten Rassismus von seinen Polizei-Kolleginnen und -Kollegen. Und wenn doch, dann dumme Sprüche:
Genau solche «dummen Sprüche» sind laut der Studie der Universität Neuenburg die häufigste Ausdrucksform von Anti-Schwarzem Rassismus, mit der Schwarze in der Schweiz konfrontiert werden. Dieser sogenannte «subtile Rassismus» äussere sich «in stigmatisierenden Haltungen, Gesten, Bemerkungen oder Witzen».
Wie der Schwarze Polizist zu watson sagt, sei er ein einziges Mal «so stark rassistisch beleidigt» worden, dass er es seinem Vorgesetzten gemeldet habe. Ihm sei zudem noch ein zweiter rassistischer Vorfall eines anderen Kollegen in seinem Korps bekannt, den seine Polizeistation daraufhin aufgearbeitet habe.
Die meisten Polizeikorps in der Schweiz erfassen Fälle von Polizistinnen und Polizisten, denen Diskriminierung vorgeworfen wird, nicht systematisch.
Eine Umfrage von watson bei 13 kantonalen Polizeikorps zeigt aber grosse Unterschiede: Während Korps wie jene in Zürich, Freiburg oder Graubünden angeben, in den letzten 15 Jahren keinen einzigen Fall von Diskriminierung registriert zu haben, erklären andere, darunter Uri, Schwyz und Luzern, solche Vorfälle weder statistisch zu erfassen noch aus Gründen der Vertraulichkeit entsprechende Angaben machen zu können.
Fälle von Diskriminierungen gab es zwar innerhalb der Kantonspolizei Basel-Stadt, dort jedoch von Männern gegenüber Frauen und keine rassistische Diskriminierung. Auch die Kantonspolizei Glarus und Obwalden sprechen von «maximal ein bis zwei Diskriminierungsfällen» und bei der Kantonspolizei Zug sind es eine «Handvoll».
Nur die Kantonspolizeien Solothurn und St. Gallen geben zu, jeweils einen einzigen Fall von rassistischer Diskriminierung innerhalb der Polizei erfasst zu haben. Doch diese Zahlen sind mit Vorsicht zu geniessen: Die fehlende systematische Erfassung macht es schwer, ein realistisches Bild zu gewinnen. Es bleibt ein unsichtbares Problem.
Und zwar nicht nur bei Rassismus-Fällen, sondern auch bei Homophobie. Burçin Zeynol ist Präsidentin von PinkCop, einem unabhängigen Schweizer Verein für LGBTI-Angehörige bei der Polizei und bei Strafverfolgungsbehörden. Sie sagt zu watson:
Grösstenteils erlebe Zeynol aber Polizistinnen und Polizisten, die sehr offen mit Minderheiten wie LGBTI-Angehörigen oder Ausländerinnen und Ausländern umgehe. Sie sagt: «Nichtsdestotrotz gibt es überall Menschen, die aus der Reihe fallen. Das ist in der Polizei nicht anders als sonst in der Gesellschaft, was wir angehen müssen und sich nicht auf die Polizeiarbeit auswirken darf.»
Dass auch Schweizer Polizeikorps nicht frei von rassistischen Einstellungen sind, zeigte sich diese Woche, als zwei Fälle öffentlich bekannt wurden. So schrieb ein Berner Kantonspolizist ein Buch, in dem er Selbstjustiz glorifizierte und das N-Wort als «ganz hübsch» bezeichnete. Und in Basel-Stadt wurde ein Polizist freigestellt, nachdem er sein Team aufgefordert hatte, jeden Schwarzen auf einer bestimmten Strasse zu kontrollieren.
Racial Profiling existiert. Und das Problem ist nicht die Hautfarbe, sondern die Macht, sie zu bewerten.
«Warum kontrollieren Sie genau mich?», frage ich ihn. «Nun, du siehst nicht gerade wie ein 0815-Schweizer aus», sagt der Polizist und zeigt mit dem Finger auf einen älteren Weissen…
*(Name der Redaktion bekannt)
Innerhalb der Gruppe der jungen Männer gibt es Untergruppen mit spezifischeren Merkmalen die statistisch krimineller ist als die Gesamtgruppe der jungen Männer. Auch hier logisch guckt die Polizei bei dieser Gruppe genauer hin.
Die Polizei kann auch nichts dafür, dass zB Drogendealer häufig Schwarze sind, und es heisst weder dass alle Dealer Schwarze sind oder alle Schwarzen Dealer sind.
Linke verstehen einfach Logik und Wahrscheinlichkeit oft nicht.