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Gaza: Neues Video zur Tötung von 15 Sanitäter

Beerdigung Gaza Roter Halbmond
Trauerfeier im Nasser-Spital in Khan Younis für acht von den israelischen Streitkräften erschossene Mitarbeiter des Palästinensischen Roten Halbmonds.Bild: shutterstock

Neues Video: Was über die Tötung von 15 Sanitätern in Gaza bekannt ist

Ein Video bringt Israels Militär in Erklärungsnot. Bislang unbekannte Aufnahmen zeigen die letzten Momente vor der Tötung von Rettungskräften im März.
07.04.2025, 08:5607.04.2025, 08:56
Jurik Caspar Iser, Andrea Böhnke / Zeit Online
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Zeit Online

Am 23. März töteten israelische Soldaten eine Gruppe palästinensischer Rettungskräfte im Gazastreifen. Videoaufnahmen wecken nun grosse Zweifel an der israelischen Darstellung des Vorfalls.

Was ist passiert?

Israelische Soldaten haben nach Angaben des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS) am 23. März in Rafah einen Krankenwagen und ein Feuerwehrauto angegriffen. 15 Menschen wurden dabei getötet. Die israelische Armee teilte nach dem Vorfall mit, ihre Soldaten hätten auf Terroristen geschossen, die sich ihnen in «verdächtigen Fahrzeugen» genähert hätten. Die Fahrzeuge seien ohne Genehmigung der israelischen Behörden und ohne Licht oder besondere Markierung unterwegs gewesen. Durch das nun veröffentlichte Video ergibt sich jedoch zumindest in Teilen ein anderes Bild.

Die Aufnahmen wurden aus dem Inneren eines Autos aufgenommen. Zu sehen sind mehrere Fahrzeuge, mindestens ein klar mit dem Roten Halbmond gekennzeichneter Krankenwagen und ein Feuerwehrauto. Sie fahren mit blinkenden Warnleuchten auf dem Dach und eingeschalteten Scheinwerfern in der Dämmerung auf einer breiten Strasse und halten an, als sie auf einen Lieferwagen am Strassenrand treffen. 

Dann bricht das Video ab. Plötzlich sind für etwa 20 Sekunden zahlreiche Schüsse zu hören. Das Bild ist anschliessend stark verwackelt. Die Tonaufzeichnung geht aber noch einige Minuten weiter.  Zu hören sind muslimische Gebete, Kommandorufe auf Hebräisch und weiter vereinzelte Schüsse.

Was wissen wir über das Video?

Der Rote Halbmond hat das Video veröffentlicht. Seinen Angaben zufolge befand es sich auf dem Mobiltelefon eines getöteten Sanitäters. Die Nachrichtenagentur Reuters konnte eigenen Angaben zufolge verifizieren, dass das Video nahe des Gebiets Tal al-Sultan westlich der Stadt Rafah im Gazastreifen aufgenommen wurde.

Wie reagiert Israel auf die Aufnahmen?

Wie die Times of Israel berichtet, hat die israelische Armee eingeräumt, dass ihre ursprüngliche Darstellung des Vorfalls von vor rund zwei Wochen inkorrekt war. Die Soldaten hätten jedoch niemand hingerichtet und auch nichts zu vertuschen versucht. Nach den tödlichen Schüssen habe ein Vize-Bataillonskommandeur mit seinen Soldaten die Leichen eingesammelt, sie im Sand vergraben und die Stelle markiert, berichtet die Zeitung weiter. Nach Angaben des Militärs ist das Vergraben von Leichen eine gängige Praxis, um zu verhindern, dass wilde Hunde und andere Tiere die Leichen fressen.

Was sagt der Rote Halbmond?

Nach Einschätzung des Roten Halbmonds wurden die unbewaffneten Rettungskräfte aus nächster Nähe erschossen und nicht aus einer Situation heraus, in der Soldaten auf sich nähernde verdächtige Fahrzeuge feuern. «Dieses Video widerlegt ganz klar die Behauptungen der Besatzungsmacht, wonach israelische Streitkräfte nicht willkürlich Krankenwagen ins Visier genommen hätten», teilte die Hilfsorganisation mit. Auch die Darstellung, die Fahrzeuge hätten sich «verdächtig ohne Licht (...) genähert», sei durch die Aufnahme widerlegt worden. Das Filmmaterial enthülle «die Wahrheit und widerlegt diese falsche Darstellung». 

Was ist über die Opfer bekannt?

Nach Angaben des Roten Halbmonds konnten die Leichen von 14 Männern erst sieben Tage nach dem Angriff aus einem Massengrab geborgen werden. Demnach handelte es sich dabei um acht Sanitäter des Roten Halbmonds sowie sechs Mitglieder der von der Hamas kontrollierten Zivilschutzbehörde im Gazastreifen. Zudem sei an einer anderen Stelle die Leiche eines UN-Mitarbeiters gefunden worden. Ein Mann werde vermisst. Wie die Times of Israel unter Berufung auf die israelische Armee schreibt, seien mindestens sechs der 15 Getöteten von Geheimdienstmitarbeitern sofort als Hamas-Kämpfer identifiziert worden. Bei einem der Toten handelt es sich um einen Mitarbeiter des Roten Halbmondes, den ZEIT ONLINE im Oktober 2024 für eine Protokollsammlung per WhatsApp interviewte. 

Was gebietet das humanitäre Recht?

Medizinisches Personal wie Ärztinnen, Pfleger und Sanitäterinnen – ebenso wie Zivilpersonen – sind nach humanitärem Völkerrecht in Kriegszeiten oder im Fall eines bewaffneten Konflikts besonders geschützt. So heisst es etwa in den Genfer Konventionen, dass Krankenhäuser, mobile Lazarette, Sanitätspersonal und -transporte unter allen Umständen zu schonen seien. Sie seien deutlich mit dem jeweiligen Schutzzeichen zu kennzeichnen, etwa einem Roten Kreuz auf weissem Hintergrund.  

Nahezu alle Länder der Welt, auch Israel, haben den Genfer Konventionen zugestimmt und sie müssen durch Gesetze und Vorschriften selbst dafür sorgen, dass sie eingehalten werden. Schwerwiegende Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht sind zunächst einmal durch die einzelnen Staaten selbst zu sanktionieren, können grundsätzlich jedoch auch vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag verfolgt und geahndet werden.

Inwiefern wurde das humanitäre Recht missachtet?

«Die Regeln des humanitären Völkerrechts sind eindeutig», schreibt Lara Dovifat, Leiterin der politischen Abteilung von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland auf Anfrage von ZEIT ONLINE. Doch diese würden in Gaza systematisch untergraben. «Die Eskalation und der konstante Bruch des humanitären Völkerrechts in Gaza sind ein Weckruf: Wir dürfen uns nicht an diese massiven Verstösse gewöhnen.»

In einer Pressekonferenz am 2. April berichtete der Leiter des UN-Büros für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten in den besetzten palästinensischen Gebieten, Jonathan Whittall, dass die Leichen der getöteten Sanitäter mit Uniformen und Handschuhen bekleidet waren. «Sie wurden getötet, während sie versuchten, Leben zu retten.» Dieser Fall missachte Anstand, Humanität und das Recht. «Es ist ein Krieg ohne Grenzen», sagte Whittall.  

Bereits vor nahezu genau einem Jahr wies der Generalstabsarzt und stellvertretende Inspekteur des Sanitätsdienstes der Bundeswehr Norbert Weller im Interview mit ZEIT ONLINE darauf hin, dass das rote Kreuz der Sanitäter heute kein Schutzzeichen mehr sei. Wir seien heute mit einer anderen Form der Kriegsführung konfrontiert und dazu gehöre auch, dass auf Sanitäter geschossen werde.

Was bedeutet das für Hilfsorganisationen für humanitäre Einsätze in Gaza?

Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (ICRC) möchte sich auf Anfrage von ZEIT ONLINE aktuell nicht zu laufenden Ermittlungen äussern. Viele Details seien noch unbekannt. «Wir wenden uns mit allen Anliegen direkt an die beteiligten Parteien», schreibt eine Sprecherin. Das ICRC ist unter anderem dafür zuständig, darauf zu achten, dass das humanitäre Völkerrecht geachtet wird und dass die unterzeichnenden Staaten es in ihre Gesetzgebung aufnehmen. 

Ende März veröffentlichte das ICRC als Reaktion auf die Tötung der Sanitäter ein Statement, in dem es Angriffe auf medizinisches Personal aufs Schärfste verurteilte. «Das humanitäre Völkerrecht ist eindeutig: Medizinisches Personal, Krankenwagen, humanitäre Hilfskräfte und Zivilschutzorganisationen müssen respektiert und geschützt werden. Es ist streng verboten, sie anzugreifen oder ihnen den Weg zu versperren», hiess es weiter. 

Lara Dovifat von Ärzte ohne Grenzen spricht von einer weiteren Eskalation der ohnehin schon katastrophalen Lage für humanitäres Personal in Gaza. «Unsere Teams vor Ort arbeiten unter Beschuss, medizinische Einrichtungen wurden wiederholt getroffen, Mitarbeitende verletzt, festgehalten oder getötet.» Elf Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen sind seit Beginn des Krieges in Gaza ums Leben gekommen. «Das ist nicht nur eine Tragödie, sondern ein Bruch mit allen Regeln, die den Schutz von Zivilisten und Zivilistinnen und Helfenden garantieren sollen.»  

Insgesamt wurden laut den Vereinten Nationen bereits fast 400 humanitäre und medizinische Helferinnen und Helfer getötet. «Gaza gehört derzeit zu den gefährlichsten Orten der Welt für humanitäre Einsätze», schreibt Dovifat.

Wie geht es weiter?

Jetzt auf

Wie die Times of Israel berichtet, will das israelische Militär den Fall erneut untersuchen. Die vollständigen Ergebnisse sollen demnach dem Generalstabschef Ejal Zamir an diesem Sonntag vorgelegt werden. 

Mit Material von AFP, dpa, Reuters

Dieser Artikel wurde zuerst auf Zeit Online veröffentlicht. Watson hat eventuell Überschriften und Zwischenüberschriften verändert. Hier geht’s zum Original.

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quelle: keystone / abir sultan
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36 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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En Espresso bitte
07.04.2025 09:51registriert Januar 2019
Die rechtsextreme Regierung in Israel hält sich nicht an internationales Kriegsrecht, lügt offensichtlich und versucht, eine Aufklärung von Kriegsverbrechen zu verhindern? Da muss man kein Unterstützer der Palästinenser sein, um das Verhalten der Soldaten, der Kommandanten und der politisch Verantwortlichen samt und sonders abgrundtief verwerflich zu finden.
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Händlmair
07.04.2025 10:48registriert Oktober 2017
Ich kann mich nur widerholen.
Der Angriff auf gekennzeichnete Mitarbeiter des roten Kreuzes, roter Halbmond und roter Kristall (Kulturell neutral), ist ein sehr schweres Kriegsverbrechen. Die Verantwortlichen dafür, unter anderem der Stabschef der Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) Herzi Halevi sowie Benjamin Netanjahu gehören vor den Internationalen Militärgerichtshof.

Zusätzlich müsste auch Viktor Orban für das ignorieren des Haftbefehls bestraft werden.

Ansonsten ist der IStGH eine Luftnummer, den niemand mehr ernst nehmen kann.
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Joe Smith
07.04.2025 11:38registriert November 2017
Ausnahmsweise liegt diesmal ein handfester Beweis vor, dass die israelische Armee schamlos lügt. Es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, dass es in anderen Fällen, in denen keine Beweise vorliegen, anders sein sollte.
Und die Armee «untersucht» wieder einmal. Wie üblich ohne weitere Konsequenzen. Oder vielleicht doch: In Zukunft wird die Armee wohl die Ermordeten genauer nach versteckten Kameras durchsuchen, ehe sie sie verscharrt.
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