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Dauernd schlechtes Gewissen? Warum das Gefühl so mächtig ist

Frau hat Gewissensbisse.
Frauen scheinen öfter von Gewissensbissen geplagt zu sein.Bild: Shutterstock

Dauernd schlechtes Gewissen? Warum das Gefühl so mächtig ist und wann wir etwas tun müssen

Irgendetwas bleibt immer auf der Strecke – irgendwer ist immer beleidigt, und Sport haben wir schon wieder nicht gemacht – ständig nagt das schlechte Gewissen an uns. Wie werden wir es bloss los? Oder ist das gar nicht die entscheidende Frage?
25.09.2021, 22:2125.09.2021, 22:23
Katja Fischer De Santi / ch media
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«Es geht nie ganz weg, egal, was ich tue, sogar im Yoga quält es mich», sagt Franka. Ein lauer Abend, wir sitzen zu dritt am See. Drei Frauen in den besten Jahren, alle mit Kindern, Jobs, Verpflichtungen. Es war nicht einfach, einen Termin zu finden. Doch jetzt sitzen wir hier, stossen an, der Kellner bringt Tapas, und Franka hat ein schlechtes Gewissen.

«Da ist immer diese Stimme», erzählt sie, die ihr zuraunt, dass noch so viel zu tun wäre, dass sie doch nicht herumsitzen könne, während sich die dreckige Wäsche staple, das Mailkonto überläuft, die Projektgruppe auf das Protokoll wartet, die Mutter auf einen Besuch.

Haben nur Perfektionistinnen ein schlechtes Gewissen?

Auch bei mir ist das schlechte Gewissen ein Dauergast. Ich mache mir Vorwürfe, dass ich immer zu spät mit schreiben beginne, und ändere doch nichts daran. Ich finde, ich könnte, nein: müsste effizienter sein, organisierter – eine bessere Journalistin, Chefin, Mutter, Tochter, Freundin, lamentiere ich und vergesse fast, den Wein zu trinken.

Nina, die dritte Freundin in unserer Runde, hört lange zu. Dann hält sie dagegen: Ein schlechtes Gewissen, das hätten nur Perfektionistinnen und Menschen mit einer verkorksten Moralvorstellung. «Ihr müsst lernen, euch selbst zu verzeihen», sagt sie und bestellt einen Fitnesssalat. «Ha!», sagt Franka, «schlechtes Gewissen, weil du wieder keinen Sport gemacht hast?»

Der Psychoanalytiker Peter Schneider sagt:

«Ein Leben ohne schlechtes Gewissen, das wäre das Gleiche wie ein Omelett zu backen, ohne Eier zu zerschlagen.»
Peter Schneider, Psychoanalytiker.
Peter Schneider, Psychoanalytiker.Bild: zvg

Kein Mensch sei perfekt, keiner wird allen Ansprüchen gerecht. «Wir alle sind verstrickt in diese Welt voller Ungerechtigkeiten und Unzulänglichkeiten. Wie soll man da kein schlechtes Gewissen haben?», fragt Schneider rhetorisch. Das schlechte Gewissen sei der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhalte. Nur wenn wir uns an gemeinsame Normen halten und unser Handeln danach ausrichten, können wir überhaupt zusammenleben.

Schon kleinste Kinder haben ein schlechtes Gewissen, und manche werden es selbst auf dem Sterbebett nicht los. Das schlechte Gewissen regt sich, wenn wir auf Social Media Bilder anschauen: Sollten wir nicht dünner, schöner, erfolgreicher sein? Es flüstert aus den Kirchen, dass wir ewige Sünder seien, es leuchtet aus dem Laptop, wenn wir spät nachts noch Büromails beantworten.

Wenn Sollen und Sein nicht übereinstimmen

Aus Sicht der Psychologie entstehen Schuldgefühle, wenn Menschen sich über ihr Verhalten selbst Vorwürfe machen, weil sie es eigentlich für falsch halten. Wenn Sollen und Sein nicht übereinstimmen. In der Sozialpsy­chologie spricht man von kognitiver Dis­sonanz. Ein unangenehmer Gefu?hls­zu­stand. «Ich muss nur an meine einsame Mutter denken, und schon habe ich Druck auf der Brust, der mich nicht durchatmen lässt», beschreibt es Franka. Das schlechte Gewissen sorgt in ihrem Leben für ein ständiges unangenehmes Rauschen. «Es fällt mir immer irgendetwas ein, weswegen ich mich schlecht fühlen könnte.»

Die Stimme, die uns schuldig spricht, ist unsere eigene.

Für den Psychoanalytiker Peter Schneider steckt die Quelle des schlechten Gewissens nicht in einem Über-Ich, das sich aus der Gesellschaft speist, sondern im Individuum selbst. Die Stimme, die uns zuraunt, dass wir etwas Falsches getan haben, ist unsere eigene. Der Richter in uns. Jedoch geprägt und geschult durch die Normen und Regeln, die wir in unserem Leben seit Kindesbeinen erlebt und erlernt haben. Die einen haben einen sehr lauten inneren Richter, hören die korrigierende Stimme den ganzen Tag. Andere haben einen faulen Richter, er wird erst geweckt, wenn alle Alarmglocken klingeln, ernsthafte Konsequenzen drohen.

Fehlt der innere Richter oder eben das schlechte Gewissen, wird es gefährlich und krank. Narzissten haben selten Schuldgefühle, weil sie die Schuld stets bei anderen suchen. Auch bei Psychopathen, denen Empathie und soziale Verantwortung fremd sind, sucht man Schuldgefühle vergebens. Während die meisten schon ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn sie einen Termin vergessen, können diese Menschen vergewaltigen und morden und anschliessend in einem Restaurant essen gehen, als wäre nichts geschehen.

Dass solch eine Gewissenlosigkeit selten ist, hat laut Peter Schneider einen evolutionsbiologischen Grund: «Hinter dem schlechten Gewissen steckt die Angst, aus der Gruppe ausgestossen zu werden», sagt er. Einsicht und Reue zu zeigen, sei seit Jahr­zehn­tausenden überlebenswichtig, «um im Schutz der Gruppe bleiben zu können».

Frauen sind schneller davon betroffen

Was bei der Recherche auffällt: Frauen scheinen öfter vom schlechten Gewissen geplagt zu sein. Keine, die komplett frei davon ist. Männer hingegen drucksen herum, konkrete Beispiele bringen sie ungern. Schlechtes Gewissen haben sie, wenn sie einen Geburtstag vergessen, und sie vergessen dann sogar das schlechte Gewissen deswegen ziemlich schnell wieder.

Eine spanische Studie aus dem Jahr 2010 bestätigt den klischierten Eindruck. Die Forscherinnen haben durch psychologische Tests herausgefunden, dass es vom Geschlecht abhängen kann, ob und wie stark wir Schuldgefühle entwickeln. Ihr Fazit: Frauen haben schneller ein schlechtes Gewissen als Männer.

Maja Storch, Psychologin, Autorin
Maja Storch, Psychologin, Autorin.Bild: zvg

Die Psychoanalytikerin Maja Storch mag dem nur bedingt zustimmen. «Frauen haben sicher öfter ein soziales schlechtes Gewissen, dass sie sich zu wenig kümmern oder nicht nett genug waren», präzisiert sie. Das hänge mit den tradierten Rollenvorstellungen zusammen. «Glaubenssätze wie jener der aufopferungsvollen Frau wirken in uns noch sehr lange nach.» In den Workshops und Coachings in Zürich und München von Maja Storch sitzen aber auch viele Männer mit schlechtem Gewissen.

«Hinter dem Stress stecken oft Schuldgefühle.»

«Diese Männer kommen zu mir, um etwas gegen ihren chronischen Stress, ihre permanente Überforderung zu tun.» Dass dahinter ein chronisch schlechtes Gewissen steckt, nicht zu genügen, muss ihnen die Leiterin des Zürcher Instituts für Selbstmanagement und Motivation dann zuerst erklären.

Storch ist überzeugt: «Das schlechte Gewissen ist die Ursache unseres Stresses.» Vor allem Personen mit einem hohen Pflichtgefühl seien anfällig dafür; komme noch eine hohe Empathie hinzu, sei der toxische Cocktail gemixt.

«Wer es allen recht machen will, der fühlt sich ständig unzulänglich.»

Die Psychoanalytikerin hat zusammen mit dem Neurobiologen Gerhard Roth einen wissenschaftlichen Ratgeber für einen besseren Umgang mit Schuldgefühlen geschrieben: «Das schlechte Gewissen - Quälgeist oder Ressource?». Für die Autorin ist klar: «Das schlechte Gewissen darf bleiben, aber wir müssen selbst einstellen können, wie laut und wie oft dieser Wecker klingelt, sonst macht er uns krank.»

Schlaflosigkeit, innere Unruhe sind Anzeichen

Ein typisches Anzeichen dafür, dass das schlechte Gewissen ein ungutes Ausmass angenommen hat, sei Schlaflosigkeit, sagt die Psychoanalytikerin. «Wenn Sie nicht einschlafen können, wenn Sie den Ausschaltknopf für Ihr Gedankenkarussell nicht mehr finden.» Schuldgefühle können auch körperliche Reaktionen wie innere Unruhe, Magenprobleme, Schwitzen bis hin zu depressiven Verstimmungen auslösen.

Richtig problematisch werde es, wenn Menschen beginnen, sich wegen eines Fehlverhaltens als Person komplett abzuwerten. Das könne so weit gehen, dass die Betroffenen anfangen, sich für Vorfälle schuldig zu fühlen, für die sie gar keine Verantwortung tragen, sagt Storch. Etwa Krankheiten von Angehörigen, Verschuldungen von Freunden, aber auch das eigene Aussehen oder Charaktereigenheiten.

Kommt Scham hinzu, erfasst es den ganzen Menschen

Dieses schlechte Gewissen geht tiefer, es sitzt dort, wo die Scham herkommt. Es wird nicht durch eine konkrete Tat ausgelöst, sondern ist diffus, umfasst einen aber als ganzen Menschen - beispielsweise, wenn man sich zu dick fühlt, ungenügend, allgemein unfähig. Es ist dieses «schlechte Gewissen, ohne genau zu wissen, was ich falsch gemacht habe», erklärt Maja Storch.

Sie ist überzeugt, dass sich hartnäckiges schlechtes Gewissen nicht rational bekämpfen lasst. Diese Menschen bräuchten eine psychologische Begleitung, um aus ihren Mustern heraus­zukommen. «Das schlechte Gewissen ist eine ungemein komplexe Angelegenheit. Im Buch versuche ich, einige Methoden, die an die unbewussten Bereiche der Psyche andocken, zu erklären. Als Hilfe zur Selbsthilfe.»

Die schnelle Absolution gibt es nicht

Bertold Ulsamer.
Bertold Ulsamer.

Der Autor und Therapeut Bertold Ulsamer findet hingegen, wir würden es uns mit dem schlechten Gewissen oft zu einfach machen. In seinem Buch «Acht Gesichter der Schuld», schreibt er: «Wir hätten gerne, dass man uns schnell verzeiht, dass wir die Absolution erhalten, ohne uns wirklich ändern zu müssen.»

Doch wer nach schneller Auflösung seines schlechten Gewissens strebe, der drehe sich vor allem um sich selbst, «er schaut nicht auf diejenigen, die er womöglich verletzt hat», schreibt der Traumatherapeut. Das Einzige, was helfe, sei, dem schlechten Gewissen in die Augen zu blicken.

«Umarmen Sie den Quälgeist, dann können Sie ihn als eine Art Kompass nutzen, weil er auf Bereiche im Leben zeigt, die man angehen sollte.»
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22 Kommentare
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Bauchgrinsler
26.09.2021 03:18registriert Mai 2021
Und schon kommen wieder diese einfach gestrickten Lösungen in den Kommentaren.....
Nein, es ist nicht so einfach. Leider hockt dieses Problem bei manchen schon seit der Kindheit in der Psyche und kann nicht einfach verdrängt werden. Und so lange man es schafft, macht man so weiter.
Bei einigen ist das kein grosses Problem, bei anderen hingegen schon.
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