Das ist die Geschichte von Barbara, die sich 1965 kurz vor ihrem 19. Geburtstag von einem Zug überrollen lässt. Das ist die Geschichte von gut 700'000 Menschen, die seit Mitte der 80er-Jahre in den USA an Aids gestorben sind. Das ist die Geschichte von Hunderttausenden, die in den USA ihr Leben durch die Opioid-Krise verloren haben.
Es ist eine Geschichte von Menschen, die am amerikanischen Gesundheitssystem scheitern. Und es ist ein Film der amerikanischen Dokumentarfilmregisseurin und Oscar-Gewinnerin Laura Poitras. Ein trauriger, aufwühlender, berührender und Hoffnung machender Film. In «Citizenfour» begleitete Poitras vor ein paar Jahren Edward Snowden im Moment seiner Enthüllungen. Für «All the Beauty and the Bloodshed» (All die Schönheit und das Blutvergiessen) hat sie Jahre an der Seite der New Yorker Fotografin Nan Goldin verbracht, ist zu ihrer Vertrauten geworden und hat ihren verblüffend erfolgreichen Kampf gegen die verbrecherische Sackler-Dynastie aufgezeichnet.
Nan Goldin, die heuer 70 wird, gilt seit vielen Jahren als die bedeutendste Fotografin der Welt. Ab den 80er-Jahren dokumentierte sie den queeren Untergrund von New York, all die glamourösen, zerschlissenen, kreativen, kaputten, jungen, älteren, erschöpften, überdrehten, hoffnungsvollen oder desillusionierten Menschen, von denen sie selbst ein Teil war. Ihre Bilder wurden zu einer Schmetterlingssammlung aus Schönheit, Sex und immer wieder sehr viel Schmerz. Krankheit, Sterben, Versehrung gehörten spätestens ab dem Wüten von Aids zum Alltag. Drogen gehörten sowieso dazu. Bevor die 90er-Jahre den Heroin Chic H&M-tauglich machten, zeigte Goldin in ihren Bildern dessen Realität.
Es gibt, sagt sie heute vor der Kamera, die Erinnerung und die Geschichten, die man daraus macht. Die Geschichten sind zurechtgeschliffen, sind rund, haben eine Logik. Die Erinnerungen selbst sind schartig und eckig, dreckig und kompliziert, haben einen Geruch, oft einen Gestank und nisten sich im Körper ein.
Nan Goldins frühe Erinnerungen sind grauenhaft. Sie wuchs als zweite Tochter einer Mittelklassefamilie in «einer klaustrophobischen Vorstadt» von Washington auf. Die Eltern hatten keinerlei Talent zum Elternsein. Als die ältere Tochter Barbara in die Pubertät kommt, erklären sie sie für «geisteskrank», verfrachten sie erst in ein Waisenhaus, dann von einer psychiatrischen Klinik zur nächsten.
In den Spitalberichten, die Nan Goldin vor wenigen Jahren zum ersten Mal gelesen hat, schreibt ein Psychiater, dass vielmehr die Mutter in eine Klinik gehöre, nicht Barbara. Und ein anderer Arzt schreibt, dass Barbara einmal von «all the beauty and the blooshed» in ihren Gedanken geredet habe. Am 12. April 1965 verlässt Barbara das Klinikgelände. Sie fragt die Anwohner einer Bahnstrecke, wann ungefähr der nächste Zug käme. Dann legt sie sich auf die Schienen.
Der Tod der geliebten Schwester ist der Schock in Nan Goldins Leben, der alles ändert. Die Eltern geben die Elfjährige weg, sie kommt von Pflegefamilie zu Pflegefamilie, verliert für ein paar Monate ihre Sprache, ihre Rettung sind schliesslich eine Hippie-Schule, ein bester schwuler Freund und die Fotografie. Das stille Auge. Mit dem Freund zieht sie zuerst nach Boston, wo sie Kunst studiert, dann in das queere Städtchen Provincetown auf Cape Cod, schliesslich landet die immer grösser werdende Ersatzfamilie in New York.
Es dauert lange, bis Nan Goldin die Weltkultkünstlerin geworden ist, die sie heute noch immer ist, bis sie auch von der Modeszene entdeckt wird und für Marken wie Jimmy Choo und Dior fotografiert. Oft bezahlt sie ihre Rechnungen als junge Frau mit Sex.
1989 erhält sie den Auftrag, eine Ausstellung zu kuratieren. Sie muss gar nicht erst über ihr Thema nachdenken: Aids. Sie will Kunst zum Thema und Kunst von aidskranken Künstlerinnen und Künstlern zeigen, will die «Schwulenseuche» enttabuisieren, will eine Sensibilität und Öffentlichkeit dafür schaffen, politisch etwas bewegen.
Das amerikanische Pendant zum Bundesamt für Kultur entzieht ihr die Unterstützung mit der Begründung, dass Homosexualität und Aids keine Themen für eine Ausstellung seien. Der damals schon sehr alte und angesehene Komponist Leonard Bernstein lehnt aus Solidarität mit Goldin die National Medal of Art ab. Die Debatte ist riesig. Und Nans Freunde sterben weiter. «Wir wurden zu professionellen Sargträgern», sagt einer, der später selbst an Aids stirbt.
Je berühmter Nan Goldin wird, desto mehr ihrer Bilder hängen in den grössten Museen der Welt. Und in allen gibt es einen Sackler-Hof, einen Sackler-Saal, einen Sackler-Flügel, im Louvre, im British Museum, in der Tate Gallery, im Metropolitan Museum, im Guggenheim Museum und so weiter. Die Pharma-Familie betätigt sich gerne und grosszügig in der Kunstförderung. Beziehungsweise in den weithin sichtbaren Flagschiffen der Kunstszene. Sie schmücken sich so mit kulturellem und intellektuellem Kapital. Imagepflege durch Artwashing.
Die Sacklers machen ihr Geld seit den 80er-Jahren in der eigenen Pharmafirma Purdue mit einem verschreibungspflichtigen Schmerzmittel, das erst MS Contin und ab 1996 OxyContin heisst. Von der Million Menschen, die seit 1999 zu den Opfern der Opioid-Krise gerechnet werden, gehen rund 200'000 auf das Konto von OxyContin oder ähnlichen verschreibungspflichtigen Medikamenten.
Wie schnell und gründlich OxyContin abhängig macht, erfährt Nan Goldin 2014. Sie bricht sich das Handgelenk, wird operiert und erhält OxyContin gegen die Schmerzen. Schnell werden aus den verschriebenen drei Pillen pro Tag 18, ein Dealer versorgt sie mit immer mehr und immer billigeren, härteren Ersatzdrogen, zuletzt mit Fentanyl. Goldin nimmt eine Überdosis und überlebt nur knapp. Sie ist damals 61, sie geht nicht zum ersten Mal in die Entzugsklinik, aber als sie zurückkommt, hat sie zum ersten Mal einen klaren Feind: die Sacklers.
Sie zieht mit ihrem ganzen Gewicht als Künstlerin in den Kampf. Sie rechnet damit, ihre Karriere für immer zu ruinieren. Es ist ihr egal. Es steht mehr auf dem Spiel als ihr Ruhm. Sie gründet die Aktivistengruppe P.A.I.N. (Prescription Addiction Intervention Now). Und P.A.I.N. demonstriert nun in den New Yorker Museen und vor dem Louvre. Demonstriert überall, wo «Sackler» angeschrieben steht. Goldin droht damit, ihre Bilder zurückzuziehen und ganze Ausstellungen abzusagen, wenn die Museen weiterhin das Blutgeld der Sacklers annehmen und reinwaschen.
Und das Wunder geschieht: Die Museen lassen sich auf die Forderungen der Künstlerin ein. Der Louvre, die National Portrait Gallery, das British Museum, die Serpentine Gallery und die Tate Gallery in London, das Guggenheim Museum und viele mehr brechen alle Geschäftskontakte zu den Sacklers ab. Das Artwashing der Firma ist tot. Die Imagepflege funktioniert nicht mehr.
Doch einen Trick haben die Sacklers noch angewendet: Die von vielen Seiten angegriffene Pharmafirma Purdue meldet Konkurs an und entgeht so 3000 bevorstehenden Gerichtsfällen. Vor dem Konkurs hat die Familie noch 10 Milliarden für sich abgezogen. 6 Milliarden schüttet sie für Vergleiche aus, dafür fordert sie uneingeschränkte Immunität für sich und ihre Erben. Das Geld wird auf die diversen amerikanischen Bundesstaaten aufgeteilt. Die Kosten für die Opioid-Krise werden auf 1000 Milliarden oder eine Billion Dollar geschätzt.
«All the Beauty and the Bloodshed» hat 2022 das Filmfestival von Venedig gewonnen und war 2023 für einen Oscar nominiert. Es ist ein erschütternder Film, so viele Menschen, die man in seinem Verlauf lieb gewinnt, stehen im Abspann unter «In Memoriam», so viele traurige Geschichten werden erzählt. Und so viele Bilder von Nan Goldin und Laura Poitras – zwei Frauen hinter ihren Kameras – spannen mit Zärtlichkeit und Wut einen berührenden Bogen über ein paar amerikanische Jahrzehnte der Schönheit und des Blutvergiessens.
«All the Beauty and the Bloodshed» läuft ab dem 27. April im Kino.
Dazu kann ich "The Pharmacist" auf Netflix empfehlen. In dieser Doku hat ein Vater seinen Sohn an einer Überdosis verloren und stellt daraufhin Nachforschungen an.