Der Mann ist eine alte Seele. Eine uralte Seele. Auf die Frage, ob er jemals einen Film drehen könnte, der in unserer Gegenwart spielt, sagt Robert Eggers: «Die Idee, ein Auto zu filmen, macht mich krank. Und die Idee, ein Handy zu filmen – das wäre mein Tod. Aber um eine zeitgenössische Geschichte zu erzählen, müsste ich auch Handys filmen, so ist nun mal das Leben. Die Antwort lautet also: Nein.»
Der 41-jährige Regisseur, der die dunklen und romantischen Mythen von einst so gut und in so vielen Schattierungen kennt wie vor ihm vielleicht nur die Märchen sammelnden Gebrüder Grimm, hat in seinem Leben wohl noch keinen Tag freiwillig ausserhalb seiner Lieblingswelten verbracht. Zudem war sein Grossvater mütterlicherseits Geologe und befasste sich mit den ältesten Schichten unseres Planeten, und sein Stiefvater war Shakespeare-Forscher.
Mit neun entdeckte der kleine Nerd auf dem Cover eines Vampir-Buches ein Bild, das er noch nicht kannte: Es zeigte den Schauspieler Max Schreck als kahlköpfigen Graf Orlok in F.W. Murnaus Stummfilm «Nosferatu» (1922). Robert wollte alles über den Film wissen, seine Mutter fuhr mit ihm in eine Videothek, sie hatte mit ihrem Sohn die Abmachung, dass er sich jeden Film anschauen dürfe, solange er sich danach mit Erwachsenen darüber unterhielt.
«Nosferatu» wurde zu Eggers Lieblingsstoff. In der Highschool adaptierte er den Film für die Bühne, so originalgetreu wie irgendwie möglich, alle Schauspielerinnen und Schauspieler wurden schwarz-weiss geschminkt. Und die Arbeit von damals wurde zur Grundlage seines «Nosferatu». Der Fairness halber nennt Eggers drei Drehbuchautoren: Sich selbst, den «Dracula»-Romancier Bram Stoker und Henrik Galeen, der das Drehbuch für Murnau schrieb.
Eggers ist kein Expressionist wie Murnau, es gibt bei ihm keinen freien, schrägen, auch plakativ abstrahierten Umgang mit Räumen und Figuren. Keine parodistische Verzerrung der Emotionen. Eggers ist ein magischer Realist. Alles bei ihm ist echt, auch wenn es erfunden ist: Gefühle, Vampire, Hexen («The Witch»), Wikinger («The Northman») und ihre ganze mystische Welt. Wenn ein Film wie «Nosferatu» im exakten Jahr 1838 beginnt, dann wird akribisch alles recherchiert, was damals möglich gewesen wäre. Jeder Knopf und jede Schiffsplanke müssen historisch korrekt sein. Eggers erzählt keine Metatexte, er erzählt Märchen aus fernen Zeiten, seine Figuren sind keine heutig denkenden Menschen in Kostümen, sie sind Menschen, ganz akribisch ausgestattet mit dem intellektuellen und emotionalen Gepäck ihrer Epochen.
Und wenn ein Vampir aus Transsylvanien kommt, dann muss er auch den dortigen Mythen entsprechen und keinen Fantasien aus dem Westen. Weshalb sich Eggers Vampir von allen anderen Filmvampiren unterscheidet.
Eggers ist tief in die osteuropäische Folklore abgetaucht und hat seinen Orlok nach alten Vampirsagen gestaltet: Er ist kein weiss leuchtender Vampir-Mond wie bei Murnau und kein konservierter Schönling wie Edward Cullen in «Twilight», nein, er ist ein langsam durch die Jahrhunderte hinweg verrottender Haufen Fleisch, ein unansehnliches, von (echten, das war dem Regisseur natürlich wichtig) Maden bevölkertes Ungetüm mit einer Stimme, als wäre Hitler seit hundert Jahren in einem Keller eingesperrt. Doch es hat eine Kraft, eine Magie und vor allem eine Sehnsucht und Begierde nach diesem einen Menschen, der nicht nur Bluttransfusion, sondern auch die grosse Liebe sein könnte.
«Ich bin ein Appetit, nichts weiter», sagt Bill Skarsgård als Orlok einmal und das ist wohl die schlichteste und ehrlichste Selbstdefinition, die man je von einem Vampir gehört hat. Bill Skarsgård aus der unerschöpflichen Skarsgård-Dynastie (sein älterer Bruder Alexander war in der Serie «True Blood» bereits ein betörender Vampir und spielte bei Eggers in «The Northman» einen heissen Hamlet-Vorgänger) ist wohl der Schauspieler, der es aktuell am besten versteht, einer überbordenden Maske eine Seele einzuhauchen, sei es mit seinem Grinsen in «It» oder mit seinen Augen als Orlok und immer mit seiner Stimme.
Orloks eiskaltes Schloss mit seinen grimmigen Hunden und seinem Sarg ist das eine. Das andere ist eine protestantische Kleinstadt in Deutschland, ganz der Aufklärung verpflichtet, und dort lebt das junge, schwer verliebte Ehepaar Ellen (Lily-Rose Depp) und Thomas Hutter (Nicholas Hoult), zwei schöne Wesen mit ungewöhnlichen Wangenknochen. Ellen neigt zu allem, was man im 19. Jahrhundert Frauen zutraute, Melancholie und Hysterie und eine damit einhergehenden Begeisterung für Sex. Thomas ist ihr hörig.
Von der ersten Sekunde weg ist klar: Nicht nur Ellen und Thomas sind füreinander bestimmt, sondern auch Ellen und Orlok. Ellens Macht ist gross. Doch so, wie ein Vampir gepfählt werden muss, muss ihre Macht von der Gesellschaft gezähmt werden, mit Korsetts, Konventionen und ganz normalen Fesseln.
Damit alles kommt, wie es kommen muss, geschehen grosse Abenteuer und entsetzliche Katastrophen und alles ist so irrsinnig schön gefilmt, so opulent, so ästhetisch, so phantastisch und dunkelromantisch. Jede Einstellung, jeder Gang im unheimlichen Nebel, jedes Gesicht ist ein Gedicht, und man schwelgt atemlos und glücklich zwei Stunden lang im Kino. Depp (Nepobaby 1), Hoult und Skarsgård (Nepobaby 2) liefern ein grandioses, furioses Schauspiel und tragen den Film mit einer traumwandlerischen Souveränität.
Das Einzige, was in dieser Geschichte wirklich niemandem hilft, ist die Vernunft, aber das kann den verzweifelten Menschen in Deutschland erst ein sanfter Metaphysiker aus der Schweiz (Willem Dafoe) klar machen, für den das Paranormale das Normale ist. Wie für Eggers. Der ohne jeden Zweifel nicht ganz von dieser Welt ist, sondern mindestens ein Zauberer. Vielleicht sogar der Teufel.
«Nosferatu» läuft ab dem 2. Januar im Kino.