Der Hollywood-Streik tut, was er tun muss, er legt die Dinge lahm. Und das Filmfestival Locarno ist eins der ersten Festivals, die das zu spüren kriegen. Das geht so: Stargast Riz Ahmed hat verständlicherweise abgesagt; Stargästin Cate Blanchett ebenfalls, beide natürlich schwersten Herzens. Ob die Absage von Deva Cassel, Tochter von Vincent Cassel und Monica Bellucci, damit zu tun hat, weiss niemand, in Hollywood ist sie noch unbekannt; Sandra Hüller hat abgesagt, nicht weil sie Gewerkschaftsmitglied in Amerika ist, sondern weil sie gerade zu viel Arbeit habe; Isabelle Adjani, die mal für Interviews zur Verfügung stand, hatte dann aber doch keine Lust und reiste schnell wieder ab.
Wer eine Ausrede hat, sich heuer um Arbeit in Locarno zu drücken, wendet sie im Windschatten des Streiks ungeniert an, so scheint es, derart undiszipliniert waren die Stars noch nie. Ein bisschen ein Sauhaufen.
Nur eine schwedische Familie bleibt standhaft kooperativ. Die Skarsgårds. Zwar entschied sich Patriarch Stellan Skarsgård, seinen Preis fürs Lebenswerk aus Solidarität mit den Streikenden nicht anzunehmen, doch praktischerweise hat sein neuster Film «What Remains» derart überhaupt nichts mit Hollywood zu tun, dass er hier problemlos gezeigt werden kann, er ist nämlich eine weitgehend chinesische Produktion, wurde in Finnland gedreht und beschäftigt schwedische, finnische und britische Schauspieler, wobei die Britin Andrea Riseborough streikt und entsprechend nicht nach Locarno gekommen ist.
Der Rest ist da, sitzt gerade im Pressecontainer und beantwortet Fragen. Also Vater Stellan, Mutter Megan und Sohn Gustaf. Und nein, lieber Patrick Toggweiler, Gustaf ist von den vielen schauspielenden Skarsgårds nicht «derjenige, den man nicht kennt», aktuell ist er im nicht ganz unbekannten Gute-Laune-Streifen «Oppenheimer» zu sehen, war ein «Westworld»-Bösewicht und hat in sechs Staffeln «Vikings» Schiffe gebaut. Und nein, Gustaf ist nicht der Sohn von Megan, sondern von Stellans erster Frau. Stellan ist ja einer der fruchtbarsten Schweden der Jetztzeit.
Acht Kinder hat er gezeugt, sieben Buben und ein Mädchen. Bis auf Sohn Sam, der Arzt geworden ist – was die anderen beschämend finden, weil sie mehr verdienen als er –, sind alle im Filmbusiness. Den schönen, scheuen Alexander, der bei jedem Interview rot wird, kennen wir alle («Succession», «Big Little Lies», «True Blood», «Tarzan»). Den unheimlichen It-Boy Bill («It») ebenfalls. Valter, Ossian und Kolbjörn noch zu wenig. Und Tochter Ejia war erst Model, dann wurde sie Casting-Agentin und fand all die rührenden, pickligen Teens für die Netflix-Serie «Young Royals». Nach acht Kindern unterzog sich Stellan einer Vasektomie und redet seither gerne darüber. Eine sinnvolle Massnahme. Er war da schliesslich schon über 60.
Und jetzt haben also drei Skarsgårds zusammen mit dem chinesischen Künstler Ran Huang einen Film gedreht. Ein schwedisches Kapitel True Crime. Ran Huang erzählt in Locarno, wie er eines Tages über die Geschichte des vermeintlichen Serienmörders Sture Bergwall stolperte, eines Mannes, der als Kind schwer missbraucht worden war, in der Psychiatrie sass und dort 30 Morde an Kindern und Jugendlichen gestand. Kein einziger dieser Morde konnte schlüssig bewiesen werden, dennoch wurde Bergwall in acht Fällen verurteilt, später widerrief er alle Geständnisse, seit 2013 ist er frei.
Ran Huang rief seine Produzentin in Europa an, sagte: «‹Kennst du jemanden in Schweden, ich will diesen Stoff verfilmen!›, und sie antwortete: ‹Ich kenne genau einen einzigen Menschen in Schweden. Stellan.› Also schrieb ich ihnen: ‹Hey, ich bin ein chinesischer Künstler, ich war noch nie in Schweden, aber ich würde gern eine schwedische Geschichte verfilmen, können wir uns treffen?›» Stellan biss an. Und mit ihm Megan und Gustaf. Megan, die aus Amerika stammt, beschloss, mit Ran Huang zusammen das Drehbuch zu schreiben. Sechs Jahre lang brutzelten sie zusammen. «Manchmal rief er mich an und sagte: ‹Ich habe ein Wort geändert!› Und ich so: ‹Oh mein Gott, echt, ein ganzes Wort?!›», erzählt Megan.
Stellan beschreibt, wie er immer nach Stoffen suche, die so noch nie geschrieben worden seien, und wie wunderbar er das Drehbuch seiner Frau gefunden habe: «Es ist sehr dunkel, sehr schön, ich wollte Teil dieser Reise in die Hölle sein.» Klar, was soll er auch anderes sagen. Einwand aus Wahrheitsgründen: Das Drehbuch ist nicht soooo höllisch gut, gelegentlich sind die Dialoge echt cringe und holzgeschnitzt, zum Glück sieht man dem Ensemble so gerne zu. Gustaf wendet ein, dass die Amerikanerin und der Chinese ein ziemlich schiefes Schweden entwickelt hätten: «Einige Namen standen falsch im Drehbuch, meine Figur heisst Mads Lake, und ich sagte immer, Mads heisst auf Schwedisch aber Mats, es hat sie nicht interessiert.» Wahrscheinlich dachten sie lieber an Mads Mikkelsen als an irgendeinen Mats.
Hatte Megan eigentlich eine gewisse masochistische Lust, als sie für ihren Mann und ihren Stiefsohn zwei Rollen schrieb, die deprimierender nicht sein könnten? Gustaf spielt den Kranken, eine dieser grossen, physischen und psychischen Verausgabungsrollen. Stellan den alkoholsüchtigen, einsamen, geschiedenen Polizisten, der die Fälle zu lösen versucht. Zwei elendeste Unglücksvögel. Und zwischen ihnen: Andrea Riseborough als vom Kinderwunsch geplagte Therapeutin.
«We are sick people», sagt Megan und lacht, aber nein, sechs Jahre lang habe sie überhaupt nicht an ihre Männer gedacht, sechs Jahre lang ging es nur um den Text. Und dann? «Es brauchte sehr viel Schmerz», sagt Gustaf, «es war eine kaputte Reise, zudem musste ich mich ernsthaft bemühen, meine Form zu verlieren, ich durfte nicht mehr trainieren und musste mich ungesund ernähren.» Jetzt hat er seine Form wieder, eine scharfe Kante schliesst an die andere. Stellan wiederum hat die gleichen knallblauen Augen wie sein Sohn Alexander. Und er trägt ein Hemd mit asiatischem Print? Chinesisch? Etwa ein Geschenk von Ran Huang? Aber so was fragt man nicht, so was wäre Boulevard.
«Ich klammerte mich an die Einsamkeit meiner Figur», sagt Stellan, «daran ist nichts Erbauliches.» «Ich wollte einen grauen Film machen», sagt Ran Huang, den die Skarsgårds inzwischen als achten Bruder und neuntes Kind betrachten, «als ich mich in Finnland nach Drehorten umschaute, regnete es die ganze Zeit und ich betete, dass wir diesen Regen beim Dreh auch haben würden, und siehe da, es regnete auch dann! Einmal schneite es. Zuerst war ich schockiert, doch der Schnee war ein grossartiger Effekt.» Es gibt auch andere hübsche Effekte. Etwa einen riesigen Ballon in Form eines Oktopus, der über einer möglichen Mordstelle im finnisch-schwedischen Wald schwebt, «auf so eine wunderbare Idee kann nur ein Künstler kommen, phänomenal», schwärmt die Produzentin, muss sie ja.
Stellan wiederum schwärmt von Andrea Riseborough, die 2023 dank einer Grassroot-Kampagne prominenter Kolleginnen für einen Oscar nominiert wurde: «Sie ist eine der besten Schauspielerinnen, die es gerade gibt, atemberaubend. Und natürlich ist sie wie jede gute Schauspielerin sehr normal. Es ist angenehm, sie um sich zu haben, mit ihr am Tisch zu sitzen, einfach sehr gut. Aber das ist so: Gute Leute sind keine Divas.» «Ausser dir», sagt Gustaf, die anwesenden Familienmitglieder müssen lachen.
Niemandem in «What Remains» wird ein Happy End gewährt, drei Figuren arbeiten sich aneinander ab und finden eine gewisse Erfüllung im Elend der anderen, aber erlöst wird niemand, Chinese Noir trifft auf Nordic Noir und macht alles noch noirer und das Resultat ist grau. Am Ende weiss man nicht, ob Mads Lake seine Verbrechen begangen hat oder nicht. Ran Huan sagt, er habe Tausende von Seiten, von Büchern, von Artikeln über den Fall gelesen, das Ende sei immer schwarz-weiss gewesen, Leute hätten ganz klare Meinungen gehabt, ohne wirklich etwas darüber zu wissen. Und deshalb habe er sich für Grau entschieden.
«Wir leben mit diesem Mythos von Closure», sagt Stellan, «davon, dass sich etwas zum Guten abschliessen und erledigen lasse, dass eine Absolution möglich sei und man sich selbst verstehe. Doch Closure existiert nicht. Die Dinge lassen sich nicht ins Gleichgewicht bringen, das Leben ist immer unausgeglichen, es gibt keine Erlösung, wenn dein Kind ermordet wurde.»
Stellan Skarsgård, der seit 55 Jahren im Geschäft ist, der alles gespielt hat zwischen dänischem Dogma-Kino und «Mamma Mia!» und als Nächstes wieder als Chef-Harkonnen in «Dune 2» zu sehen sein wird, wirkt unendlich müde, aber zufrieden. Und auch wenn «What Remains» nicht der beste Film in seinem Portfolio sein dürfte, so war er doch ganz offensichtlich eine der besten Erfahrungen. Eine Familienangelegenheit eben. «Wir wünschen uns, dass Ran Huang noch lange Filme macht und ausschliesslich Skarsgårds beschäftigt», sagt Gustaf. Na, davon gibt's ja viele. «Eben», sagt Gustaf, «und wir können immer für Nachschub sorgen!»
Draussen sind gerade ungewöhnlich einnehmende 25 Grad, eine Gnade im Vergleich zu den mindestens 36 Grad, die üblicherweise während des Festivals herrschen. Die drei Skarsgårds lassen sich kurz fotografieren, dann wenden sie sich einander zu, als würden sie sich gegenseitig mit kleinen Familienmagneten anziehen. Ich könnte Stellan jetzt nach dem Hemd fragen. Doch ich mag das Familienbild nicht stören.
«What Remains» hat noch keinen Starttermin in Europa.