Im Kino gewesen. Nichts erwartet. Überglücklich nach Hause gegangen. Was für ein wunderwunderbarer Film! Energie, Herz, Tragik, Komik, Fantasie, Besetzung – alles stimmt, fesselt, berührt, macht staunen.
Doch von vorn: Die britische Regisseurin Andrea Arnold («Fish Tank», «Wuthering Heights», dazu viele Folgen von Serien wie «Big Little Lies» oder «Transparent») ist an die Orte ihrer Kindheit gegangen. In den sozialen Wohnungbau und die besetzten Häuser von Dartford und Gravesend in Kent. Sie hat die vertrauten Kulissen mit Figuren bevölkert, die sie von früher kennt und zu denen auch ihre eigene Familie gehörte, Menschen, denen das Leben nichts geschenkt hat ausser dem Trieb, sich auf alle möglichen Arten durchzuschlagen.
Sie sind der Bodensatz der britischen Gesellschaft, störendes Ungeziefer – was Punk-Papa Bug (Barry Keoghan aus «Saltburn» und «The Banshees of Inisherin») in Arnolds Film absolut ernst nimmt: In seinem besetzten Haus sind Käfer und Insekten auf die Wände gesprayt und er selbst hat sich mit vielen dieser Viecher tätowieren lassen, allerdings ausserordentlich ästhetisch, er sieht aus wie ein wandelndes, antikes Naturkundebuch.
Bug («Käfer») hat zwei Kinder zweier Mütter, die 12-jährige Bailey (Nykiya Adams in ihrer ersten Rolle) und den wenige Jahre älteren Hunter, dessen Freundin bereits schwanger ist (Andrea Arnolds Eltern waren bei der Geburt ihrer Tochter 16 und 17), und Bug hat vor allem die dümmste oder beste Idee, wie er zu Geld kommen kann. Er hat sich eine Drogenkröte gekauft, eine Sonorische Wüstenkröte, deren Schleim in Form von Kristallen geraucht werden kann und eine hoch halluzinogene Wirkung hat. Die Frage ist bloss: Wie kriegt man das Tier glücklich zum Abschleimen? Bug und seine Freunde versuchen es mit Coldplay – das ist im Kino noch viel lustiger, als es hier hoffentlich klingt.
Auch sonst ist der Soundtrack ein Vielerlei aus England und Irland – viel energetischer Post-Punk von Fontaines D.C. (für die Andrea Arnold Musikvideos dreht), und «The Universal» von Blur hängt als Hoffnungshymne über allem, der Refrain «it really, really, really could happen» gilt nicht nur für die Kröte, sondern für alle.
Denn «Bird» («Vogel»), wie der Film heisst, der auf märchenhafte Art den Alltag seiner Figuren mit dem Natürlichen und dem Übernatürlichen verflicht, ist im Grunde ein Film darüber, wie Menschen versuchen, sich mit etwas kindlichem Wunderglauben über die Verwundungen durch die Realität hinwegzuhelfen.
Erzählt wird «Bird» nämlich nicht aus Bugs Perspektive, sondern aus der von Bailey, dem Mädchen, das bald keines mehr sein wird. Sie ist abgebrüht und frühreif und engagiert auch schon mal die Schlägerbande ihres Bruders, wenn es darum geht, für Gerechtigkeit zu sorgen, doch zugleich ist sie noch gefangen in Träumen von Schmetterlingen und Erlösung.
Ihr Begleiter wird dabei der ungewöhnlich freundliche Bird (Franz Rogowski), ein ebenso weiser wie naiver Wanderer und Waldschrat, keine Ahnung, woher er kommt und wohin er geht. Bird ist eine jener Figuren, die sich ein Kind zum Helfer und besten Freund wünscht, und man weiss nie so genau, ob er nur eine Fantasie ist.
Wie lange das durch Fabelwesen, Alkohol und Drogen befeuerte Wunschdenken bei Kindern und Erwachsenen anhalten und seine halluzinogene Wirkung entfalten kann, weiss niemand. Bei Bug führt es zu immer neuen und völlig überzeugten Versuchen von Glück und Geld, bei Bailey führt es vielleicht in eine bessere Zukunft. Möglicherweise sogar in eine, die so gut ist wie jene von Andrea Arnold. It really, really, really could happen.
«Bird» läuft ab dem 9. Januar im Kino.