Was wäre das für eine Freude, wenn Kieran Culkin im März einen Oscar gewinnen würde! Und die Chancen sind gut: Der von seinen Kindern mit temporären Tattoos am rechten Unterarm bereits hochdekorierte Schauspieler wurde bei den Golden Globes zum besten Nebendarsteller gekürt – nachdem er im vergangenen Jahr eine Auszeichnung als bester Serien-Hauptdarsteller in «Succession» gewonnen hatte.
Und jetzt also «A Real Pain». Der herzzerreissende Film über zwei jüdische Cousins, die an einer Holocaust-Gedenk-Gruppenreise nach Polen teilnehmen, um dort die Geschichte ihrer Grossmutter zu recherchieren. Jesse Eisenberg, der auch Regisseur und Drehbuchautor des Films ist, spielt den einen, Culkin den anderen, das ergibt zwei Bros beim Dauerschwafeln. Culkin ist dabei lustig, exzentrisch, verletzlich, gebrochen, neurotisch, liebenswert und abgrundtief therapiebedürftig. Der Film ist eine jüdische Tragikomödie, smart, sensibel, selbstironisch, man will mindestens so oft weinen, wie man lachen muss.
Dabei hat Culkin (ja, der Bruder des «Kevin») versucht, sich mehrfach aus dem Projekt davonzuschleichen. Weil er es einfach nicht so lange aushält ohne seine Frau und seine beiden Kinder und am liebsten nur zuhause sein und gar keine Filme mehr drehen würde. Mit seiner Frau hat er während der Golden Globes ein paar Tequila-Shots zu viel getrunken, deshalb ist seine Dankesrede mal wieder so verhühnert, wie man das von ihm erhofft hat, und kreist nicht zuletzt um seine eigene Therapiebedürftigkeit.
Seine vielen Armbänder haben übrigens, versichert er immer wieder, nichts mit Taylor Swift zu tun, einige sind Urlaubserinnerungen, zwei hat er seinen Kindern gewidmet, auf einem steht der Name seiner Frau, andere waren Geschenke, doch der grossartigste Schmuck sind definitiv die Cartoon-Tattoos seiner Kinder, all die Drachen und goldenen Sternchen, die Glacé, der laufende Wackelpudding, das Büsi, der Kaktus und so weiter.
Auch eine andere jüdische Geschichte hat bei den Oscars die besten Chancen, «The Brutalist», das dreieinhalbstündige Low-Budget-Epos über einen ungarischen Holocaust-Überlebenden und Architekten (Adrien Brody, er gewann seinen ersten Oscar 2003 als Holocaust-Überlebender in «The Pianist»), der nach dem Krieg in Amerika zum Star wird. Drei gewichtige Golden Globes gab's dafür – bester Hauptdarsteller, beste Regie und bester Film. Brody dürfte der Oscar sicher sein. Kinostart bei uns ist Ende Januar.
Sebastian Stan, der gleich doppelt für Golden Globes nominiert war – als psychisch entstellter Donald Trump in «The Apprentice» und als körperlich entstellter Schauspieler in «A Different Man» (er gewann dafür den Hauptdarsteller-Preis in der Kategorie Komödie oder Musical) –, kann ihm nicht gefährlich werden, Brody ist ein anderes Kaliber. Und für den von Trump gehassten Trump-Film wird es eh keine wichtigen Preise mehr geben, jetzt, da sein Protagonist wieder an der Macht ist.
Nicht erstaunlich ist, dass der Riesenhype um «Anora» am Ende doch zu keinem einzigen GG reichte, der Film ist aber auch ein Quatsch, «Pretty Woman», nachgestellt mit dem Cast mehrerer «Bachelor»-Staffeln.
Erstaunlich dagegen, dass der andere Superhype, «Conclave», der formal berückende, effiziente, aber auch etwas simple Robert-Harris-Thriller im Vatikan, ausser einer Auszeichnung fürs Drehbuch nichts holte. Bereits am Zurich Film Festival wurde hart mit seiner Oscar-Tauglichkeit geworben, es dürfte dort ähnlich still um ihn bleiben wie bei den Golden Globes.
Eigentlich war Nicole Kidman in ihrer «Babygirl»-Rolle als eiskalte CEO mit heissen sexuellen Unterwerfungsfantasien für den Preis als beste Hauptdarstellerin gesetzt, doch es blieb bei der Golden-Globe-Nomination (es war ihre zwanzigste). Vielleicht hatte die Jury Kidmans gefühlt tausendste Darstellung einer hochprivilegierten Amerikanerin mit perversen Neigungen satt, jedenfalls entschied sie sich für die überraschendste Wahl, für die Brasilianerin Fernanda Torres im Militärdiktatur-Drama «I'm Still Here» (der Film läuft ab Mitte März in unseren Kinos).
Alle würden Demi Moore (sie erhielt den Golden Globe als die Beste in der Kategorie Comedy oder Musical) auch den Oscar gönnen, ihre Leistung im Bodyhorror «The Substance» ist umwerfend. Oder der entzückenden Pamela Anderson als «The Last Showgirl». Beide werden am 17. Januar auch mit grösster Wahrscheinlichkeit gemeinsam mit Kidman, Torres und möglicherweise Karla Sofía Gascón («Emilia Pérez») nominiert. Wer ihn gewinnt, ist hier vollkommen offen. Wagen wir mal die steile These, dass es auf jeden Fall eine Frau über 50 sein wird.
Demi Moore’s daughters react to her #GoldenGlobes win. pic.twitter.com/i0jilM5ZEE
— Pop Crave (@PopCrave) January 6, 2025
«Emilia Pérez» ist ein Rätsel. Ein Gangster-Musical um einen bösen Drogenkartellboss, der sich plötzlich sicher ist, eine Frau zu sein, und dies mittels der schnellsten und problemlosesten Geschlechtsangleichung der Menschheitsgeschichte auch umsetzt. Das Resultat ist eine sozial verantwortungsbewusste Wohltäterin mit einer geheimnisvollen Restdüsternis. Alles ist garniert mit Pathos, Liebe, Hass und Schiessereien in diesem Film, der in den musikalischen Sequenzen eine geradezu irre Energie entfaltet und richtig magnetisch wird, dessen Geschichte aber einfach nur haarsträubend holperig und (psycho)logisch unterbelichtet bleibt.
In der Romandie ist «Emilia Pérez» ein Publikumsliebling, in der Deutschschweiz (noch) nicht wirklich. Bei den Festivals und Filmpreisen ist der Netflix-Film, der überall auf Netflix läuft, nur in Deutschland, Österreich und der Schweiz nicht, wie uns die zuständige Agentur mitteilte, ein Erfolg: vier Golden Globes, vier Europäische Filmpreise, zwei Auszeichnungen in Cannes etc.
Es wird bei den Oscars 2025 keine überraschenden Neuzugänge mehr geben, von denen wir noch so wenig gehört haben wie bisher von «I'm Still Here». Das Dylan-Biopic «A Complete Unknown» mit Timothée Chalamet wird noch etwa an Fahrt gewinnen. Netflix wird sich für «Emilia Pérez» gewiss wieder die teuerste Kampagne leisten (in der Vergangenheit investierte Netflix dafür bis zu 30 Millionen Dollar), aber es wird keinen «Oppenheimer» geben, der 100 Millionen kostete, Abermillionen ins Kino lockte und überragend viele Awards gewinnen wird. Weder die teuren Mainstream-Vehikel «Gladiator 2» (250 Millionen) noch «Dune 2» (190 Millionen) werden Chancen in den wichtigen Kategorien haben.
«The Brutalist» kostete vergleichsweise bescheidene 10 Millionen Dollar, «A Real Pain» 7,8 Millionen, «The Substance» hat sein Budget von 17,5 Millionen schon fast fünffach eingespielt, «Conclave» und «Babygirl» kosteten je 20 Millionen, und auch die opulente «Emilia Pérez» kommt «nur» auf 25 Millionen (hat bisher allerdings erst 9,8 wieder eingespielt). Einzig «A Complete Unknown» fällt mit 65 Millionen komplett aus der Reihe – wo Chalamet draufsteht, geht das Publikum rein, das haben «Dune» und «Wonka» bewiesen. Es werden heuer «kleinere» Filme sein, die besonders sind und grosse Chancen haben. Und deren Auszeichnungen besonders freuen.