«Nächster Halt, Rorschach.»
Roger schaute auf den See, der hin und wieder hinter seinem Fenster aufblitzte. Er war von seinem Bett direkt in den Zug geflüchtet. Wenn einem so etwas passiert wie ihm, dann muss man sofort an einen See fahren. An einen sehr grossen. Bis nach Genf wollte er aber dann doch nicht, der Bodensee musste reichen.
Sein Kopf war so schwer, dass er ihn kaum auf dem Hals tragen konnte. Den Ellbogen auf das kleine Tischlein gestützt, hielt er ihn wie eine Bowlingkugel mit den Fingern an der Stirn. Leider aber fehlten die Grifflöcher, der Schmerz hätte sonst vielleicht daraus entweichen können.
So aber musste Roger seine Nägel reindrücken, bis der Zug hielt. Dann stieg er aus und setzte sich auf eine Bank. Es war früh am Morgen, das war gut, so konnte er auf klares Wasser schauen, keines von billigen Parfums und hochprozentigen Sonnencremes bereits verschlierggtes. Seine Gedanken waren schon dreckig genug. Als klebriges Knäuel hafteten sie irgendwo an einer Hinterwand seines Gehirns, wo er nicht rankam. Der See musste ihm jetzt helfen, musste ihm das Knäuel ins Bewusstsein zurückspülen, wo Roger es zerlegen und ordnen konnte.
Die Möwen zogen ihre Kreise über ihm. Hatte er Géra seine Möwen-Imitation vorgeführt? Roger war wirklich gut darin. So gut, dass die Möwen ihm antworteten.
Aber es war nicht von Belang. Die Drogen hatten sein Innerstes nach Aussen gekehrt. All seine Gefühle hatte er ihr dargeboten, auf einem Bauchladen lagen sie, gratis, zum Mitnehmen.
Roger war leergeräumt worden – und konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern.
«Ist hier noch frei?», fragte eine Frauenstimme. Roger schaute hoch, sah erst eine Brille und dann ein Gesicht, das wie etwas Zweitrangiges drumherum modelliert worden war. Er hatte keine Lust auf andere Leute. Und schon gar nicht auf eine Frau mit überspannter Brille. Er nickte, den Blick wieder aufs Wasser gerichtet, das ganz still und grün vor ihm lag.
Die Frau setzte sich hin, nahm ihre Brille ab und begann sie zu putzen. Sie spuckte auf die ausladenden Gläser und rieb sie an ihrem Rock trocken. «So», sagte sie. «Jetzt seh ich wieder was.»
«Muss schön sein», hörte sich Roger sagen. Eigentlich wollte er gar nicht mit ihr reden.
«Kommt immer drauf an», antwortete sie ihm. «Ich hab auch weniger Schönes gesehen.»
Jetzt sah Roger, dass sich die Haut um ihre Brille herum ganz erschöpft von einer zur anderen Ecke hangelte. Vielleicht fühlte sich die Dame jeden Tag so erschlagen wie er gerade. Erschlagen vom Leben. Von seiner Unnachgiebigkeit, seiner Länge. Und weil Roger innerlich so leer war, gab es nun Raum für die Gefühle anderer, und so füllte er sich bis obenhin mit Mitgefühl für seine Banknachbarin, für ihr Schicksal, das er zwar nicht kannte, aber durch seine membranhafte Zartheit, die ihm der Drogenkater in jenem Moment verlieh, ganz genau zu spüren glaubte.
«Was ist los, junger Mann?,» fragte sie ihn.
«Ich blicke nicht mehr durch», gab Roger zurück. «Ich glaub, ich hab alles ruiniert.»
«Meiner Erfahrung nach kann man das meiste wieder gradebiegen. Ausser du hast ihr einen Dolch ins Herz gerammt.»
«Eher sie mir», sagte er.
«Verstehe.»
Und Roger fühlte sich verstanden. Irgendwo zwischen Geschehenem und Gegenwärtigem sitzend, in einem Zustand vollumfänglicher Versehrtheit, begann er zu akzeptieren. Möglicherweise war es auch ein akuter Schwächeanfall, letztlich aber etwas Begrüssenswertes, denn Roger gab sich für einmal den Begebenheiten hin. Er versuchte nicht länger, die geisterhaft an ihm vorüberziehenden Erinnerungsschwaden der letzten Nacht zu erhaschen. Plötzlich machten sie ihm keine Angst mehr, er wurde ganz still und grün wie das Wasser vor ihm.
Zumindest so lange, bis er sich erbrach. Danach war er nicht mehr grün und auch die Ruhe war weg, futsch die Losgelöstheit von all dem sinnlosen Begehren. Roger hatte sich kurzerhand aus jener nirvanahaften Verfassung herausgekotzt, um sich in den heimeligen Zwängen und dem schwarzen Loch wiederzufinden, das sein Gedächtnis war. Umso inständiger setzte er nun alle Hoffnungen in die Frau neben ihm, die ganz interessiert die bröcklige Lache zwischen seinen Beinen betrachtete. Sie schob ihre Brille über die diversen Hügel ihrer Nase und fing an, darin zu lesen.
«Hmm», sagte sie nach einer Weile. Roger schaute ihr zu, wie sie seinen Mageninhalt durchforstete. Das Ganze schien eine gewisse Professionalität zu haben.
«Da!» Sie zeigte an den nordwestlichen Rand der übelriechenden Tunke, dahin, wo sich die allermeisten Klümplein zusammengetan hatten.
«Eine Crevette!», rief sie freudig wie eine fündig gewordene Goldgräberin.
Na toll. Daran konnte sich selbst Roger erinnern. Es war das Einzige, was er mit Sicherheit niemals vergessen würde. Wie er dieses schauderöse Krustentier auf Nicoles Geheiss heruntergewürgt hatte, damit er dieses Mal ein Bödeli habe. Wie sich dieser in harmlosem Blassrosa getarnte Halbkringel weigerte, schnell und ohne allzu gefährliche Geschmacksentfaltung seine Kehle hinabzugleiten, wie sich dieser krebsige Widerling auf dem Weg zum Enddarm querstellte und statt sich unverzüglich in eben jenes zweckmässige Bödeli zu verwandeln, viel eher zum Pröpfli wurde und dergestalt Rogers Speiseröhre abdichtete.
Nur der Campari Soda konnte ihn vor dem sicheren Erstickungstod retten.
Roger sah ein wenig genauer hin. Konnte das sein? Diese schwarze Linie am Rücken. Das war nichts anderes als sein vollgeschissener Darm! Rogers Verdacht erhärtete sich, der Shrimp wollte ihn fertigmachen. Als würde er sagen: «Schau, wie ich völlig unbeschadet in deinem Magensaft gebadet habe – mitsamt meinem Kackkanal!»
Im Umkehrschluss hiess das natürlich: Rogers Verdauungstrakt war ein Schwächling. Unfähig, einen lumpigen Shrimp anständig zu zersetzen. Vielleicht wusste sein Körper auch einfach nichts mit den hochwertigen Proteinen darin anzufangen.
Alles in allem war es ein Tiefpunkt, wie ihn selbst Roger noch nicht erlebt hatte. Da sass er, auf einer Bank in Rorschach, vor seiner Kotze, in die die Alte neben ihm noch immer mit dem theatralischen Ernst einer Volksspiritistin hineinstarrte, und war eifersüchtig auf die makellose Verdauungsleistung eines Shrimp.
Er stand auf und ginggte in den nächstgelegenen Baum. Dann fuhr er zurück nach Hause. Seine Tür stand offen, Roger hatte vor lauter Fluchtinstinkt vergessen, sie abzuschliessen. Und gerade, als er sich aufs Bett fallen lassen wollte, knirschte es unter seinem On-Schuh. Er schaute zu Boden und sah dort die Herzlisonnenbrille liegen, die er gestern Abend getragen hatte. Sie musste schon früher zerbrochen sein, sie war regelrecht zermalmt worden. Das konnte er nicht mit seinem müden Tritt von vorhin geschafft haben.
Er hob eine Scherbe auf und hätte es auf dem getönten Glas fast übersehen, aber der dunkle Fleck ... Er kratzte ein wenig davon ab, guckte nochmal.
Ja, es war Blut. Und auch auf dem Boden sah er die Schlierggen jetzt.
«Blut. Blut und Boden. Adolf Hitler ... what? Ich werde wahnsinnig», dachte sich Roger und zog Schuhe und Socken aus. Nichts. Kein Kratzer. «Ok, gut, ich bin also nicht reingetrampt. Hab ich mich vielleicht vor lauter Verzweiflung geritzt?» Roger untersuchte seine Arme, dann entkleidete er sich, suchte am ganzen Körper nach Verletzungen, sah sich seinen Rücken im Spiegel an, nichts.
«Wenn es nicht meins ist, wessen Blut ist das?», fragte er sich. «Géra. Ohmeingott. Ich habe ihr doch einen Dolch ins Herz gerammt. Nein, dann wär mehr Blut da. Und mehr Géra auch. Und überhaupt, wie soll sie hierher gekommen sein. Nein, das kann nicht sein. Darf nicht sein. Please.»
Und btw danke für den Kackkanal, ich wurde wieder mal daran erinnert das ich mit mitte 30 immer noch dem infantilen Humor fröhne.