War ein Hosenriss wirklich besser als ein Hodenriss? Verdammter Kovac, dachte sich der schrumplig geduschte Roger, der nach seinem Fremdouting einfach unter dem Wasserstrahl stehen blieb. Gelähmt vor Scham. Für Gott weiss wie lange.
«Apéro ist ready!», sagte Nicole am Freitag drauf freudig zu ihm. «Komm, genug gearbeitet für heute, lass uns schauen, was dieses Mal alles aufgetischt wird.» Roger folgte seiner Arbeitskollegin widerwillig auf die Dachterrasse ihres riesenhaften Bürokomplexes, wo er unter einem blau-weiss gestreiften Sonnenschirm eine Bambustheke erblickte. Dahinter standen zwei Kellner, beide im Matrosenanzug, der eine braungebrannt, die Haut des anderen spielte schon eher ins Rötliche.
«Wie passend», meinte Roger, «da hat die Chefin extra einen Sonnenverbrannten bestellt für ihre doofe Rimini-Party.»
Roger hasste Motto-Partys. Er fühlte sich davon eingeengt. Vielleicht war es aber auch die Fantasie, über die er nur in sehr rudimentären Ansätzen verfügte und die von der Aufgabe, sich einen alternativen Roger, und sei es bloss einen Roger am Reihenstrand am Bagno 57 in Rimini, zu denken, überfordert war. Und natürlich wusste auch Nicole über jene Verkleidungsträgheit Bescheid und brachte ihm ihre knallrote Herzlisonnenbrille mit.
«Hier, zieh die an und lächle», befahl sie ihm jetzt, «ein kleines Zugeständnis an die Festlaune der Belegschaft musst du schon machen, sonst wirkst du wie eine beleidigte Leberwurst, und das bist du doch nicht.»
Leider war Roger genau das. Er hasste nicht nur Motto-Partys, auch Apéros bekamen ihm nicht, weil es ihm nur selten gelang, dieses spätnachmittägliche Trinken in ein einigermassen vernünftiges Verhältnis zu den dargebotenen Häppchen zu setzen. Wie ein in den schaumig aufgetürmten Wellen des Ozeans verloren gegangenes Papierschiffchen segelte er seinem sicheren Untergang entgegen.
Er kotzte und ging nach Hause. Meistens jedenfalls. Heute allerdings sollte der Apéro «riche» werden. Roger hatte schon die Crevettenschwänze aus den Gläschen lampen sehen. Er hasste Crevetten.
«Zwei Campari Soda, bitte», sagte Nicole zum Gebräunten.
«Wo bleibt sie nur, die Frau der Stunde?», fragte Roger ungeduldig, während er versuchte, am Sonnenschirmchen in seinem Glas vorbeizutrinken.
«Ich hab sie auch noch nicht ... ah doch, da, da hinten!», jauchzte Nicole.
Und da stand sie. Umringt von sechs Männern, darum sah Roger sie erst gar nicht. Aber jetzt ging der eine zur Bar und es tat sich unversehens ein Loch auf in jenem engmaschigen Netz, woraus ihr ganzes Funkeln wie regenbogenfarbige Streumunition geschossen kam. Das Sonnenlicht hatte sich in ihrem Schuppenkleid verfangen, um dort gnadenlos aufgespalten, gebrochen und zerlegt zu werden. Roger blinzelte, fast wäre er unter Nicoles Herzli-Sonnenbrille erblindet, während der Rest der Glitzerstrahlen sich direkt in sein völlig schutzloses Herz bohrte.
Da stand sie, fischschwänzig und in einem blau schimmernden Muschel-BH, als hätte man sie aus einer viel zu schönen Geschichte gefischt und nun zum allgemeinen Ergötzen auf diese gepflasterte Dachterrasse gestellt. Hier tropfte sie die letzten Tropfen Meer in die Fugen, auf dem Trockenen zur Unbeweglichkeit verdammt, konnte sie nicht aus ihrer Gefangenschaft fliehen.
Oder wollte sie es am Ende gar nicht?
Roger stürmte hin zu ihr, er wollte sich in die Lücke stellen, die den Männerreigen für kurze Zeit unterbrochen hatte. Dann sah er, wie Stefan, von der Bar kommend, dieselbe Richtung einschlug. Roger gab Vollgas, schaffte es gerade noch vor seinem Konkurrenten – und schloss den Kreis.
«Oh, Stefan, du Bester, ist das hier mein Sex on the Beach?» Die Meerjungfrau zeigte neben Roger vorbei auf den orangefarbenen Cocktail in der Mitte von Stefans Tablett.
«Was sonst!» antwortete Stefan. Roger seinerseits wollte keinen Zentimeter seines errungenen Platzes hergeben, aber weil sich die Meerjungfrau selbst nicht zum Tablett bewegen konnte, musste er den Mann mit den Getränken schliesslich doch durchlassen. Ein wenig zumindest, er stellte sich seitwärts, sodass Stefan das Tablett mühselig in den Kreis hineinstrecken musste, wo das Nixenhändchen noch immer verlangend in der Luft hing. Kaum hatte es nach der Erfrischung gegriffen, wollte Roger sich wieder zurückdrehen, geriet dabei mit seinem leicht in Schwingung versetzten Arm ans Tablett und kippte die sechs Biergläser um, die darauf verblieben waren.
Einige davon fielen zu Boden und zersprangen. Es spritzte und scherbelte. Und in der nun herrschenden allgemeinen Bestürzung, zwischen den zahlreichen «Oh man, Roger!»- und «Roger, du Idiot!»-Rufen der anderen, griff Roger nach der barfüssigen Wassernymphe, hob sie aus dem Scherbenmeer und trug sie auf seinen Armen davon.
Raubte sie, wie Zeus Europa raubte, und brachte sie zur Toilette, damit sie sich in ihre Reinheit zurückwaschen konnte.
«Oh!», machte Géraldine.
«Gratuliere», sagte Roger. «Du hast die Beförderung verdient.»
«Danke, äh ...?», antwortete sie ihm und öffnete die Tür zum Damen-WC.
«Roger», sagte Roger.
«Roger», wiederholte Géraldine.
«Und tut mir leid wegen dem Bier», rief er ihr noch hinterher. Sie hielt ihren Fischschwanz in die Höhe, damit sie gehen konnte, wobei ihre hauchzarten, zierlichen Füsse zum Vorschein kamen. «Auf diesen winzigen Füsschen geht sie also durch die Welt. Und sogar aufs WC. Einfach so. Macht sie dreckig, ohne mit der Wimper zu zucken. Was für eine Frau!», dachte Roger voller Bewunderung.
«Ach, egal», hörte er ihre immer ein bisschen heisere Stimme durch den Türspalt, «der billige Polyester von diesem Meerjungfrauen-Kostüm riecht nicht viel besser, da ist der Bierduft gleich eine Aufwertung!»
Roger stand noch eine Weile vor der Toilette rum. Was war gerade passiert? Hatte er Géra wirklich auf Händen zum WC getragen? Was für ein Held. Dass er selbst Verursacher des Unglücks war, in das seine Braut geraten war, hatte er geflissentlich verdrängt. Geblieben war reinste Bewunderung für sich selbst.
Am allermeisten gefiel ihm, dass er sich dabei selbst überrascht hatte. Im Moment grösster Verzweiflung war er über sich selbst hinausgewachsen. Hätte er so einen Move doch nur während des internen Bewerbungsgesprächs mit der Chefin gemacht, dann wäre nicht Géra, sondern er selbst befördert worden. Andererseits. Wo hätte er die Chefin hinlupfen sollen? Vielleicht war's auch einfach so eine Sisterhood-Sache, dachte er jetzt. Ein Frauending. Ein Frauenquotending vielleicht sogar. Quantität vor Qualität. Typisch. An seiner Powerpoint-Präsi kann's nämlich nicht gelegen haben, die war eins a.
«Hey Roger, bist du dabei?», unterbrach Géra seine Gedanken. Sie wedelte mit einem Säcklein aus der WC-Tür heraus.
«Was ist da drin?» fragte er.
«Zauberpilzli», antwortete sie.
«Her damit!», sagte Roger, der neue, verwegene Roger, der bereit war, aufs Ganze zu gehen. Und darüber hinaus. Er schnappte sich das Säcklein, sperrte seinen Mund auf und leerte den halben Inhalt in sich hinein.
Es war wie damals im Jungwacht-Lager, als Schwester Irma dieses zaddrige Voressen gekocht hatte, das er über eine halbe Stunde lang gekaut hatte, ohne dass es dabei die geringste Formveränderung vollzogen hätte. Voressen, nur schon dieser Name. Als hätte es Schwester Irma davor schon im Mund gehabt. Und genauso schmeckten auch die Pilze.
Roger schlug energisch seine Zähne drauf und dazwischen würgte er, die Galle vermischte sich mit den ledrigen Pilzstücklein, das Resultat war eine ausnehmend strenge, erdig-säuerliche Note, die seinen Rachen verätzte.
«Oha», sagte Géra. «Bist du sicher, dass das eine gute ... »
«Ja», röchelte Roger. Sein Selbstbewusstsein erdreistete sich mittlerweile schon, mitten in die sonst so unantastbaren Sätze seiner Angebeteten hineinzufahren.
Eine Stunde später konnte man Roger dabei zuschauen, wie er die Kokosnüsse der aufblasbaren Plastikpalme zu pflücken versuchte. Er hüpfte ein wenig, kam aber auch so nicht ran, also setzte er sich hin und klagte über die ihm verwehrte Süsse, an der er sich so gerne hätte gütlich tun wollen.
Plötzlich sah er, wie Géras Gesicht auf einer der Früchte auftauchte, es sagte «Hopp, Roger!», also stand er wieder auf und scheiterte noch einmal. Géra lachte. Und Roger weinte. Er weinte laut und bitterlich und begann damit, sich auszuziehen. Erst die Kleider, dann die Haut. Beides faltete er ordentlich zusammen und legte es vor die Palme auf den Boden. Dann folgten Bindegewebe, Fleischfasern, Muskeln. Zuletzt nahm er seine Knochen, türmte sie auf zu einem grossen Haufen. Die der Arme nahm er in den Mund und warf sie obendrauf. Seinen nackten Schädel behielt er. Und aus seinen leeren Augenhöhlen heraus sah er, wie Géras Gesicht sich aus der Kokosnuss schälte, wie es immer grösser wurde und zu einer riesenhaften Fratze anschwoll. Darunter begann sich ein krustiger Körper zu bilden, woraus zehn lange Krabbenbeine erwuchsen, mit denen sie nun seitwärts auf den Knochenhaufen zustakste. Mit ihren Zangen zerbrach sie Rogers Gebeine, zerstückelte sie restlos, bis nur noch kleine Brösel übrig waren.
Das ist ja wie wenn man mit den Schlittschuhen in der Wüste wandern geht.