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Nachhaltigkeit: Die Wirtschaft hat die Frauen verloren

Das Referendum gegen das Wirtschaftsabkommen mit Indonesien ist formell zu Stande gekommen. (Ronja Jansen, Pr
Juso-Präsidentin Ronja Jansen kämpfte gegen den Indonesien-Vertrag. Die Frauen folgten ihr mehrheitlich.Bild: sda
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Fast-Nein zum Freihandel: Die Wirtschaft hat die Frauen verloren

Das Freihandelsabkommen mit Indonesien wäre beinahe an den Frauen gescheitert. Für die Wirtschaft ist dies ein Warnsignal. Und ein Weckruf. Sie muss ihre Anliegen ernster nehmen.
08.03.2021, 14:5609.03.2021, 09:54
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Einst waren die Parolen der Wirtschaft für das Schweizer Stimmvolk fast ein Dogma. Was gut ist für die Unternehmen, ist gut für alle, lautete die Devise. Und viele folgten ihr. Damals galt der Direktor des Schweizerischen Handels- und Industrievereins, kurz Vorort genannt, als eine Art achter Bundesrat. Nach seiner Pfeife tanzten viele in Bern.

Der Vorort heisst heute Economiesuisse und ist nur noch ein Abklatsch seiner einstigen Grösse. Im Gleichschritt mit dem Verband hat auch die Wirtschaft als Ganzes an Einfluss verloren. Die Zeiten sind vorbei, als das Stimmvolk ihr beinahe blind folgte. Erste Warnsignale waren die Annahme der Abzocker- und der Masseneinwanderungsinitiative.

Ein Plakat zur Abzocker-Initiative mit der Aufschrift "Nein zur Minder-Initiative" haengt am Strassenrand, am Mittwoch, 6. Februar 2013 in Luzern. Am 3. Maerz 2013 wird an der Eidgenoessisch ...
Solche Parolen wie hier gegen die Abzockerinitiative verfangen immer weniger.Bild: KEYSTONE

Diese Volksentscheide reflektierten das Unbehagen über eine globalisierte Manager-Elite, die sich – und ihre Vergütungen – an den Weltmärkten ausgerichtet und von den bodenständigen Schweizer Werten abgekoppelt hatte. In beiden Fällen konnte der «Schaden» durch eine zahnlose oder stark verwässerte Umsetzung limitiert werden.

Ein «Anlass zur Sorge»

Das Misstrauen gegenüber der Wirtschaft aber ist geblieben und hat sich zuletzt verstärkt. Dafür verantwortlich sind vor allem die Frauen. Sie verhalfen im letzten November der Konzernverantwortungsinitiative zum Volksmehr und damit zum Achtungserfolg. Und ihretwegen wäre am Sonntag fast das Freihandelsabkommen mit Indonesien abgestürzt.

Dabei hatte es keine nennenswerte Nein-Kampagne gegeben. Parteien und NGOs hielten sich zurück, nachdem der Bundesrat beim Palmöl Zugeständnisse in Sachen Nachhaltigkeit herausholen konnte. Den Frauen genügte dies offenbar nicht. Sie stimmten laut der Tamedia-Nachbefragung zu 55 Prozent mit Nein. An ihnen wäre der Vertrag gescheitert.

«Wir haben Gegenwind erwartet. Das Ausmass der Nein-Stimmen ist jedoch etwas höher als wir gehofft haben», sagte Christoph Mäder, Präsident von Economiesuisse. Auch dem Tessiner Mitte-Nationalrat und Gewerbeverbands-Präsidenten Fabio Regazzi gibt das knappe Resultat «zu denken». Für die FDP ist das Resultat ein «Anlass zur Sorge».

epa08686231 Greenpeace activist Gesche Juergens speaks before protesters with banners outside of the Economy Ministry in Berlin, Germany, 21 September 2020. Protesters of various organizations demonst ...
Das Abkommen der EU mit dem Mercosur wird heftig kritisiert. Auch bei uns droht scharfer Gegenwind.Bild: keystone

Die Freisinnigen betonen «die zentrale Bedeutung des Freihandels für den Wohlstand in der Schweiz». Tatsächlich ist die Schweiz eines der am stärksten globalisierten Länder der Welt, sie verdient jeden zweiten Franken im Aussenhandel. Vielen Frauen und jüngeren Menschen genügt dies nicht mehr. Sie legen Wert auf ökologische und soziale Leitplanken.

Ungemach für Mercosur-Vertrag

Das bedeutet potenzielles Ungemach für weitere Handelsverträge etwa mit Malaysia, das in Sachen Palmöl für die Schweiz eine viel grössere Bedeutung hat als Indonesien. Oder das Abkommen mit den Mercosur-Staaten Argentinien, Brasilien, Paraguay und Uruguay. Bereits im August 2019 war eine Einigung in den Verhandlungen mit der Efta vermeldet worden.

Ein Vertragstext aber liegt bis heute nicht vor. Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) begründet dies mit «unterschiedlichen Interpretationen» in gewissen Passagen. Der Verdacht liegt nahe, dass es um das Thema Nachhaltigkeit geht. Für Probleme sorgen könnte Brasilien, dessen rechtspopulistischer Präsident Jair Bolsonaro davon gar nichts hält.

Seco schiebt Verantwortung ab

Bolsonaro hat den Amazonas-Regenwald, der für die weltweite Klimaregulierung eine unentbehrliche Rolle spielt, zur Abholzung für die Fleisch- und Sojaproduktion freigegeben. Solche Produkte wollen die Mercosur-Länder vermehrt in die Efta exportieren. Das macht griffige Nachhaltigkeits-Regeln wie beim Indonesien-Abkommen zur Herausforderung.

Brände im Amazonas-Gebiet

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Brände im Amazonas-Gebiet
In Brasilien steht der Wald in Flammen. Seit Wochen wüten Tausende Feuer im Amazonasgebiet und den angrenzenden Steppengebieten.
quelle: ap
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Das Seco schiebt auf seiner Website die Verantwortung auf die Konsumenten und Importeure ab: «Sie können durch ihre Nachfrage steuern, welche Produkte importiert werden. Das Angebot jedenfalls besteht.» Gleichzeitig deutet es an, dass die Schweiz beim Mercosur keine Konzessionen herausholen konnte, die jenen von Indonesien entsprechen.

Ärger wegen Gleichstellung

Das wäre ein schlechtes Omen für die wahrscheinliche Volksabstimmung. Die Opposition dürfte wesentlich entschlossener auftreten als beim Indonesien-Vertrag. Bäuerliche Kreise und NGOs werden das Abkommen bekämpfen, ebenso SP und Grüne. Nette Worthülsen und Lippenbekenntnisse zum Schutz des Regenwalds werden nicht ausreichen.

Ohne Nachhaltigkeit wird beim Freihandel nichts mehr gehen. Gleichzeitig muss sich die Wirtschaft überlegen, wie sie die Frauen «zurückholen» kann. Denn die Gründe für ihr Misstrauen gehen tiefer. Sie wurzeln in der Tatsache, dass die Schweiz beim Thema Gleichstellung alles andere als vorbildlich ist. Frauen werden immer noch benachteiligt.

Metzlers Comeback

Das gilt für Löhne, Karrierechancen oder die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Denn das schweizerische Wirtschaftssystem ist nach wie vor auf den Vollzeit erwerbstätigen Mann ausgerichtet. Der Kulturwandel ist im Gang, aber eher in Zeitlupe als mit Vollgas. Auch in Bereichen wie Altersvorsorge oder Steuersysteme sind die Frauen im Nachteil.

Ruth Metzler-Arnold, Alt-Bundesraetin, spricht an einer Medienkonferenz des Initiativkomitees der eidgenoessischen Volksinitiative "Fuer eine zivilstandsunabhaengige Individualbesteuerung (Steuer ...
Alt-Bundesrätin Ruth Metzler-Arnold bei der Vorstellung der Volksinitiative zur Einführung der Individualbesteuerung.Bild: keystone

Da passt es gut, dass exakt am Weltfrauentag ein rein weibliches Komitee die Volksinitiative zur Einführung der Individualbesteuerung lanciert hat. Diese gilt als wichtiges Element für die Gleichstellung. Der auffälligste Name ist die frühere CVP-Bundesrätin Ruth Metzler-Arnold, die seit ihrer Abwahl 2003 kaum noch politisch in Erscheinung getreten war.

Jahre später steigt sie nun wieder in den Ring. Es ist ein deutliches Signal an die Männer und die Wirtschaft, dass die Frauen nicht länger auf die Gleichstellung warten wollen. Das gilt es zu bedenken, wenn über die nächsten Wirtschaftsvorlagen abgestimmt wird.

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1 Jahr nach dem Frauenstreik gehen Tausende auf die Strasse
Frauen demonstrieren anlässlich des Frauenstreik-Jubiläums in der ganzen Schweiz, hier in Zürich.
quelle: keystone / ennio leanza
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47 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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goschi
08.03.2021 15:12registriert Januar 2014
DIE Frauen?
gerade am Weltfrauentag derart absolute Erklärungen zu treffen ist ... ... ironisch ...
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Toerpe Zwerg
08.03.2021 15:09registriert Februar 2014
Journalismus by Bauchgefühl ist nicht per se schlecht. Manchmal haut man eine These raus, muss mal sein. Manchmal trifft man, manchmal nicht. Ziemlich egal.

Nun ist aber Frauentag. Das Geschlecht von Wählerlinnen, Journalistinnen, Politikerinnen, VRinnen, CEOinnen, Pflegerinnen ... Hast Du weibliche oder männliche Geschlechtsteile ... ist diese Frage sexistisch?

Selbstverständlich ist sie das.

Bin ich alt? Bin ich weiss? Bin ich Mann?

I do not care.
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uhl
08.03.2021 16:01registriert Februar 2019
Wie Blunschi immer wieder Abstimmungsergebnisse umschreiben kann. Ein Ja wird zu einem gemeinten Nein, einem Ja, aber oder einem Fast-Nein, ein Nein zu einem Vielleicht...
Man kann es immer drehen und wenden wie man will. Aber man sollte vor allem auch etwas anderes können: Ergebnisse akzeptieren. Das scheint vielen Menschen inzwischen sehr schwer zu fallen.
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